Umerziehung der Uiguren: Wascht Gehirne, reinigt Herzen

Umerziehung der Uiguren: Wascht Gehirne, reinigt Herzen

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.12.2019

Adrian Zenz – In Umerziehungslagern bringt die chinesische Regierung in der Provinz Xinjiang ethnische Minderheiten auf Parteilinie – und inszeniert sich als die besseren Eltern. Die Schilderungen von Augenzeugen sind erschreckend.

Die Katze ist aus dem Sack: Die chinesische Regierung hat die Welt angelogen. Neue Dokumente, einige davon streng geheim, liefern den schlagenden Beweis für eine beispiellose Kampagne der Unterdrückung in der entlegenen autonomen Region Xinjiang, der frisch auserkorenen Kernregion von Staatspräsident Xi Jinpings „neuer Seidenstraße“.

Seit Herbst vorigen Jahres ließ die Regierung junge uigurische Männer und Frauen aus den vorgeblichen „Berufsbildungsstätten“ vor laufenden Kameras tanzen und mit lächelnden Mienen chinesische Regierungsslogans vortragen. In Xinjiang, so der Tenor, würden junge Menschen mit Berufsbildungsmaßnahmen von extremistischem Gedankengut ferngehalten. Diese Fassade ist in sich zusammengefallen. Bereits Mitte November veröffentlichte die „New York Times“ interne Dokumente aus der Region. Diese enthielten eine Rede, in der Staatspräsident Xi Jinping selbst die mehrheitlich muslimischen Minderheiten als von einem gefährlichen „gedanklichen Virus“ befallen beschrieb, der nur durch eine „Phase der schmerzhaften, interventiven Behandlung“ ausgerottet werden könne. Die Website einer Bezirksregierung gibt offen an: Die Umerziehung „wäscht Gehirne, reinigt Herzen“.

Vor einer guten Woche wurden dann teils streng vertrauliche Regierungsdokumente veröffentlicht, die dem Internationalen Konsortium Investigativer Journalisten und mir selbst zugespielt worden waren. Besonders relevant ist ein „dringliches“ Telegramm der Regionalregierung, eingestuft auf der zweithöchsten Vertraulichkeitsstufe. Dieses Dokument beweist, dass Xinjiangs „Berufsbildungseinrichtungen“ in Wahrheit als Hochsicherheitsgefängnisse fungieren. Sogar dem eigenen Personal ist strengstens untersagt, Fotos zu machen oder interne Statistiken zu führen.

Was bezweckt die Regierung damit, und wie soll die Umerziehung funktionieren? Es geht der Kommunistischen Partei Chinas nicht nur um reine Machtausübung, sondern auch um das Heranziehen eines der Ideologie gemäßen „neuen Menschen“. Doch genau damit scheiterte sie, auch unter der eigenen Gefolgschaft. Als Regierungschef Deng Xiaoping in den achtziger Jahren die Konsequenzen aus den fatalen Fehlern der Kulturrevolution zog und eine Politik der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Liberalisierung einleitete, da erlebte China, was der Pulitzer-Preisträger Ian Johnson als eine „geistliche Erweckung“ bezeichnete. Die Minderheiten wandten sich ihren ursprünglichen geistlichen Wurzeln zu. Die Han-Chinesen strömten zu alten und neuen religiösen Bewegungen. auch viele Parteimitglieder wurden religiös.

Für die Partei war diese Entwicklung ein Fanal. Ihre Grundmaxime, nach der gerade die organisierten Religionen mit zunehmendem materiellem Wohlstand verschwinden würden, war im kern widerlegt. Die Partei selbst war geistlich bankrott, durchsetzt von Korruption und Nepotismus. Dem Hunger des Menschen nach tieferer Sinnfindung und geistlicher Erfüllung kann sie nur mit einer immer zwanghafteren ideologischen Gleichschaltung begegnen. Wenn reguläre Propagandamethoden her nicht mehr ausreichen, dann bleibt nur die Umerziehung.

Doch was zurzeit in Xinjiang passiert, hat auch noch eine andere Wurzel: eine Abkehr von der bisherigen Minderheitenpolitik Chinas hin zu einer Politik einer ethnischen Assimilierung. Nach sowjetischem Vorbild hatte die Volksrepublik sich ursprünglich offiziell als ein multiethnischer Staat definiert, der nicht nur von der Mehrheit der Han-Chinesen, sondern genauso von seinen 55 Minderheiten gebildet werde. Doch seit dem Untergang der Sowjetunion und verstärkt seit den Unruhen in Lhasa 2008 und in Urumqi 2009 wird dieses Modell parteiintern immer mehr in Frage gestellt.

Angestoßen wurde die Diskussion von Ma Rong, einem einflussreichen Soziologen an der Universität Peking. Ma Rong argumentierte, dass das sowjetische Modell eigener Minderheitenrepubliken ethnische und damit territorial zusammenhängende Identitäten auf unnötige und gefährliche Weise bestärkt habe. Als Alternative befürwortete er eine „Entpolitisierung“ der Nationalitätenfrage. Statt eigener Identität, Sonderrechten, autonomer Regionen und eines separaten Bildungssystems sollten sich die Minderheiten vollständig in die Mehrheit der Han-Chinesen integrieren. Ma Rongs Vorbild waren hier sowohl der amerikanische melting pot als auch sein eigener Lehrer, der berühmte chinesische Anthropologe Fei Xiaotong. Dieser lehrte, dass die Han-Chinesen einen ethnischen „Nukleus“ darstellten, mit dem sich die angrenzenden Minderheiten in einem „natürlichen“ historischen Prozess nach und nach verschmelzen. Fei Xiaotongs bekannter Spruch zu dieser fusionsartigen Beziehung der Han zu den Minderheiten „Ich bin inmitten von dir, un du bist inmitten von mir“ (ni zhong you wo, wo zhong you ni) wird auch gerne von Xinjiangs Parteisekretär Chen Quanguo benutzt, der als der Architekt der Internierungskampagne gilt.

Standardisierung des Verhaltens

Zu den einflussreichsten Vertretern dieser Assimilierungsbefürworter gehören die an der Pekinger Tsinghua-Universität lehrenden Wissenschaftler Hu Angang und Hu Lianhe. Im Jahr 2011 veröffentlichten sie einen bahnbrechenden Artikel, der die Regierung zu einer „zweiten Generation der Minderheitenpolitik“ aufreif. Xi Jinping selbst verwies diese Position in einer Rede im September 2014 noch in ihre Schranken und bekannte sich zum klassischen Autonomiemodell. Gleichzeitig aber gab seine Rede auch eindeutige Hinweise darauf, dass er eine Neuausrichtung der Minderheitenpolitik befürwortete.

Deshalb ist es von gar nicht zu überschätzender Signalwirkung, dass im September 2018 nun ausgerechnet Hu Lianhe dazu auserkoren wurde, Chinas Internierungskampagne in Xinjiang bei den Vereinten Nationen vor der ganzen Welt zu rechtfertigen. Hu selbst schrieb, dass die „gesellschaftliche Stabilität“ eine „Standardisierung menschlichen Verhaltens“ erfordere. genau das ist auch das Ziel der Umerziehung. diese neue Marschrichtung in Pekings Minderheitenpolitik passt zu dem zunehmend zentralistisch-maoistischen Gleichschaltungsstil des Staatspräsidenten.

Wie sich die „Standardisierung menschlichen Verhaltens“ in den Umerziehungslagern vollzieht, dazu geben die jetzt veröffentlichten Dokumente nähere Hinweise. Ein Dokument spricht von „Erziehung durch psychologische Rektifikation“, an einer anderen Stelle ist von „Tröpfchenbewässerung“ die Rede. Es werden genaue Anweisungen für das „Verhaltensmanagement“ der Insassen gegeben. Alle Tagesabläufe sollen strengstens bis ins Detail reglementiert sein, „Disziplin und Strafen für Fehlverhalten müssen verstärkt werden“. Der resultierende extreme psychologische Druck ist durch übereinstimmende Zeugenaussagen belegt. Ind en Lagern wird das stundenlange Exerzieren der staatlichen Ideologie mit stringenten Gehorsamsübungen, drakonischen Strafen und menschenunwürdigen Haftbedingungen gepaart. Die Umerziehung, heißt es in einer Anweisung, solle mindestens ein Jahr lang dauern. wer sich der Umerziehung widersetze, der müsse einer „mehrstufigen“ „Umerziehung“ im „Sturmangriffsstil“ ausgesetzt werden und müsse mit einer deutlich längeren Internierung rechnen. Das Ergebnis trugen die Vorführinsassen den ausländischen Reportern brav vor: „Ich war mir meiner Fehler nicht bewusst … Aber die Partei hat mich gerettet.“

Aus kognitionswissenschaftlicher Sicht stehen hinter den weitgehend unbewussten, automatisierten Denk- und Handlungsschemata des Menschen synaptische Signalbahnen im Gehirn, die durch ständige Wiederholung zustande kommen und die umso stabiler sind, je stärker die die Lernprozesse begleitenden Emotionen sind. Die Umerziehung in Xinjiang scheint das gezielt zu nutzen. Sie setzt bei der kognitiven Umprogrammierung auf einen lange andauernden Prozess der Repetition, begleitet von massiver Traumatisierung.

Über Monate und Jahre hinweg wird das Opfer der Umerziehung gezwungen, auf akribischste Fehlersuche zu gehen. Wie die Augenzeugenberichte dokumentieren, umfasst diese keineswegs nur das eigene Verhalten, sondern auch die kulturellen und geistlichen Wurzeln. Was der gesunde Menschenverstand als Normalverhalten kennt, wird durch unablässige Wiederholung und harte Strafen bei geringster kognitiver Gegenwehr mit der Zeit als Sünde verinnerlicht. Durch gebetsmühlenhafte Repetition soll der vom Staat vorgeschriebene „Fehler“ mit der Zeit ein untrennbarer Bestandteil der eigenen kognitiven Realität werden.

Dezimierung der Menschenwürde

Die Umerziehung ist menschlich schwer auszuhalten, und genauso soll es auch sein. Sie erfolgt im Gleichschritt mit einer gezielten Dezimierung der Menschenwürde. Auch die Willensstärkste Natur wird so irgendwann gebrochen. Omir Bekali, einer der ersten zeugen, suchte bereits nach zwanzig Tagen im Lager die Erlösung durch Selbstmord. Ein anderer ehemaliger Lagerinsasse, Kayrat Samarkand, schlug aus Verzweiflung seinen Kopf gegen die Wand. Der Selbstmordversuch misslang; Samarkand wurde nur bewusstlos.

Das Geheimdokument sagt, dass die Lager drei Zonen haben, in die die Insassen abhängig vom Fortschritt ihrer Umerziehung eingeteilt werden: „normal“, „strikt“ und „sehr strikt“. Jede Zone habe ihre eigenen „Erziehungsmethoden“. Das ist vermutlich der Grund, warum manche Zeugen von brutaler Folter sprechen, während andere „nur“ mit Nahrungs- oder Schlafentzug bestraft wurden.

In Xinjiangs Umerziehungslagern werden horizontale Bindungen (soziale Beziehungen) durch eine exklusive vertikale Autoritätsbeziehung zur Partei substituiert. Augenzeugen haben berichtet, dass die durch Kameras und Mikrofone überwachten Insassen nicht miteinander reden dürfen. Das ist nicht simple Bösartigkeit, sondern diabolische Methodik. Man redet nur dann, wenn man dem Erzieher antworten muss. Wer etwas Falsches sagt oder „Fehler nicht zugibt, wird streng bestraft. Ziel ist, dass das eigenständige Individuum innerlich abstirbt und der gleichgeschaltete „neue Mensch“ an seinen Platz tritt. Ein Augenzeuge beschrieb es treffend: Die Internierten hätten merkwürdig leere Gesichtsausdrücke; sie erschienen seelenlos, wie Roboter.

Diese Strategie geht zumindest teilweise auf. Etliche Berichte besagen übereinstimmend, dass die aus den Lagern Entlassenen zurück bei ihren Familien passiv und schweigsam in der Ecke sitzen. Reden tun sie vor allem dann, wenn besuchende Regierungsvertreter Fragen stellen. Beziehung, das ist nur noch die Partei. Die Angst, etwas Falsches zu sagen und wieder im Lager zu landen. lauert ständig im Hintergrund. der Körper wurde entlassen, die Seele bleibt hinter Gittern.

Umerziehung ist aber nicht nur für Erwachsene, und sie findet nicht nur in Lagern statt. Die Partei vergleicht die ethnischen Gruppen in China oft mit einer „großen Familie“. In dieser Familie ist die Partei der Elternteil, die Völker sind die Kinder. In Xinjiang wird das nun zur sprichwörtlichen Realität. Während die Eltern im Lager sind, werden die Kinder in Hochsicherheitsinternaten hinter Stacheldraht und Mauern zu Chinesisch sprechenden kommunistischen Staatsbürgern erzogen. Staatliche preist diese Generationentrennung als vorteilhaft an. Die Kinder würden endlich gute Manieren lernen: Höflichkeit, Körperhygiene wie regelmäßiges Zähneputzen und natürlich fließendes Chinesisch. Die Botschaft ist eindeutig: Die Partei ist der bessere Elternteil.

Was sich in Xinjiang abspielt, das fand man bislang nur in Science-Fiction-Romanen. China eilt dem Westen mit Siebenmeilenstiefeln voraus, auch wenn es um die neuesten Formen der Verbrechen gegen die Menschheit geht. Es ist höchste Zeit, dass wir dem nicht mehr tatenlos zusehen.

Adrian Zenz ist Wissenschaftler für Chinastudien bei der Stiftung Victims of Communism Memorial Foundation in Washington, D.C.

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/augenzeugenberichte-zur-umerziehung-der-uiguren-in-china-16519010.html