Menschenrechte in Xinjiang: Pekings alternative Fakten

Menschenrechte in Xinjiang: Pekings alternative Fakten

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.12.2019

Friederike Böge – Mit einer internationalen Medienkampagne begegnet China der Kritik an der Unterdrückung der Uiguren in Xinjiang. Die Veröffentlichungen im Westen haben im Machtapparat offensichtlich Unruhe ausgelöst.

Seit Tagen wird in Chinas Staatsmedien intensiv über ein Thema berichtet, das sonst lieber verschwiegen wird: die Lage in Xinjiang. Die Führung in Peking reagiert damit auf die jüngsten Medienenthüllungen über die dortigen Umerziehungslager und auf eine amerikanische Gesetzesinitiative, die zu Sanktionen gegen Personen führen könnte, die für die Lager verantwortlich gemacht werden.

Ein Kommentar des Staatsfernsehens brachte am Dienstag das Ziel der Kampagne auf den Punkt: „Ein Xinjiang, zwei Erzählungen.“ Die eine Erzählung, die in westlichen Medien nachzulesen ist, berichtet von mehr als einer Million Muslimen, die ohne Gerichtsverfahren in Hochsicherheitslagern festgehalten und einer ideologischen Gehirnwäsche unterzogen werden. Sie ist durch Zeugenaussagen, Satellitenaufnahmen und Regierungsdokumente belegt.

Die andere Erzählung beruft sich auf Menschen wie die französische „China-Expertin und Philosophin“ Sonia Bressler. Sie sei der Meinung, in Xinjiang würden „viele ethnische Gruppen harmonisch zusammenleben“, schreibt die Nachrichtenagentur Xinhua. Das amerikanische Sanktionsgesetz sei Ausdruck von „Washingtons hegemonialem Ansatz, das Thema Menschenrechte zu missbrauchen, um die öffentliche Meinung irrezuführen“. Der Bericht wurde in acht europäische Sprachen übersetzt. Auf ihrer Website verweist die Französin unter der Rubrik „Presse“ auf ganzseitige Texte, die die „Volkszeitung“, also das Sprachrohr der Kommunistischen Partei Chinas, ihrem Schaffen gewidmet hat.

Sonia Bressler ist nur eine von vielen ausländischen Stimmen, die die Staatsmedien in den vergangenen Tagen zusammengetragen haben, um die Illusion einer Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Verbreitet wird diese Botschaft auch auf Twitter, Youtube und Facebook, die in China verboten sind. Sie richtet sich offenbar an ein ausländisches Publikum, das westlichen Medien und Amerika gegenüber kritisch eingestellt ist.

Im Kontext der „zwei Erzählungen“ ist auch eine Pressekonferenz zu sehen, die der Gouverneur von Xinjiang Shohrat Zakir am Montag gab. Darin sagte er, „alle Auszubildenden“, so nennt China die Insassen der Umerziehungslager, „haben ihre Ausbildung beendet, mit Hilfe der Regierung stabile Arbeitsplätze gefunden und ihre Lebensqualität verbessert“. Auf fast identische Weise hatte sich Zakir Ende Juli bei seiner vorigen Pressekonferenz geäußert.

Auf einer Pressekonferenz in Peking zeigt der Gouverneur von Xinjiang, Shohrat Zakir (Zweiter von rechts) am Montag einen Film über Terrorismus in der Provinz. Bild: AP

Seither hat China jedoch keinerlei Belege für diese Behauptung vorgelegt. Wie schon im Juli wollte Zakir auch am Montag keine Angaben über die Zahl der „Abgänger“ machen. Zur Begründung sagte er, ihre Zahl sei „dynamisch“. Zudem verwandte er die gleiche Formulierung wie im Juli: „Manche kommen, manche gehen.“ Damit schien er seiner Aussage zu widersprechen, dass alle „Auszubildenden“ nun die Lager verlassen hätten.

Auch wich Zakir der Frage aus, ob sie das Recht hätten, nach Hause zurückzukehren. Fachleute wie der deutsche Forscher Adrian Zenz haben darauf verwiesen, dass viele der Internierten in verschiedene Formen der Zwangsarbeit entlassen worden seien und nach einem Gerichtsverfahren in reguläre Gefängnisse überstellt wurden.

Die jüngsten Aussagen Zakirs lassen sich kurzfristig nicht überprüfen, denn journalistische Recherchen sind in Xinjiang nur begrenzt möglich. Ein gerade von dort zurückgekehrter Journalist berichtet, dass er bei seinen Fahrten durch die Region dauerhaft von Begleitern in fünf Fahrzeugen beschattet worden sei. Auf internationale Forderungen, der UN-Menschenrechtsbeauftragten Zugang zu der Region zu gewähren, geht Peking weiterhin nicht ein. 

Stattdessen bemüht sich China, sein Vorgehen in Xinjiang als Antiterrormaßnahme zu rechtfertigen. Zu diesem Zweck veröffentlichte das Staatsfernsehen zwei englischsprachige Dokumentationen über Gewalt und Terroranschläge in Xinjiang. In einer weiteren Rückkopplungsschleife unterstellte die Sprecherin des Außenministeriums am Montag westlichen Medien, sie seien einseitig, weil sie nicht über die Propagandavideos und die darin enthaltenen Informationen über die Terrorgruppe ETIM und deren Verbindungen zu internationalen dschihadistischen Gruppen berichtetet hätten. Welcher Zusammenhang zwischen einzelnen Terroristen und der Internierung Hunderttausender Muslime bestehen soll, konnte die Sprecherin aber nicht erklären.

Die aufwendige Medienkampagne lässt vermuten, dass die jüngsten Veröffentlichungen geheimer Regierungsdokumente in vielen westlichen Medien wohl Unruhe im chinesischen Machtapparat auslöst. Eines der Papiere enthält konkrete Anweisungen, wie Umerziehungslager zu führen seien. Es lässt keinen Zweifel daran, dass die Insassen dort gewaltsam festgehalten werden und dass ihre Internierung der Gehirnwäsche dient. Unter anderem wird die Lagerleitung angewiesen, „niemals unnatürliche Todesfälle zuzulassen“.

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/china-versucht-vorgehen-gegen-uiguren-in-xinjiang-zu-erklaeren-16528192.html