Die Kinder von Xinjiang – am Tag in der Schule, in der Nacht im Waisenhaus

Die Kinder von Xinjiang – am Tag in der Schule, in der Nacht im Waisenhaus

NZZ, 16.10.2020

Unten ein Artikel aus der NZZ, Foto Hasselt AFP.

Im chinesischen Beamtensprech nennt man sie «einfache Not» und «doppelte Not»: die Halb- und Vollwaisen, um die sich der Staat kümmert. Jene überwiegend uigurischen Kinder, die ihren Vater, ihre Mutter oder beide Elternteile an eines der bekannten Umerziehungslager in Xinjiang verloren haben.

Dass viele Kinder davon betroffen sind, zeigt eine Analyse von Daten einer Lokalregierung des deutschen Anthropologen Adrian Zenz, der bereits seit Jahren ausführlich zur Lage der Uiguren in Xinjiang recherchiert. Zenz erhielt im Sommer 2019 insgesamt 25 000 Regierungsdokumente aus einem digitalen Netzwerk lokaler Beamter. Er führt nicht aus, wie er zu den geheimen Unterlagen gekommen ist, erklärt aber, es sei ohne Hacking geschehen.

Zenz’ Datenanalyse belegt: In Yarkant, das zum Bezirk Kaschgars gehört, wachsen mehr als 10 000 Kinder mit nur einem Elternteil auf. Über 1000 Kinder leben ohne Eltern. Der Grossteil der Eltern steckt in Umerziehungslagern, ein weiterer Teil in Gefängnissen oder einer anderen Art von Haft. Über die Hälfte ihrer Kinder leben in Internaten, einige in Waisenhäusern. Die Regierung hat deshalb die Bildungsausgaben in den letzten Jahren stark erhöht. Auch Hilfsorganisationen kümmern sich um die Kinder und spenden zum Beispiel warme Kleider für den Winter. In einem Fall, den Zenz genauer untersucht hat, liegt das Waisenhaus direkt neben der Primarschule. 99 der Kinder gehen untertags und am Wochenende zur Schule, in der Nacht schlafen sie im Waisenhaus.

In Yarkant kam es im Juli 2014 zu gewaltsamen Unruhen zwischen Uiguren und Han-Chinesen, bei denen laut chinesischen Medien 35 Han-Chinesen und 59 uigurische «Terroristen» starben. Exil-Uiguren sprechen hingegen von einem Massaker an Uiguren, bei dem mehrere hundert Uiguren gestorben seien. Zenz schätzt, dass heute über 15 Prozent der Erwachsenen in Yarkant in einer Art Haft sind oder waren. Yarkant ist ein traditionell armer Bezirk. Internate gibt es aber auch vermehrt in Tibet.

In ganz Xinjiang sei die Zahl der Kinder, die in Internaten leben, zwischen 2017 und 2019 um 380 000 gewachsen, schreibt Zenz in seiner Analyse. Fast 900 000 uigurische Kinder besuchten heute ein Internat, schätzt der Experte. Dies sei Teil einer Strategie, soziale Kontrolle über die nächste Generation zu erlangen.

Die chinesische Regierung hingegen sagt, die Internate verbesserten die Ausbildung von Kindern in unterentwickelten Regionen und seien sicherer, da der lange tägliche Schulweg wegfalle.

Die chinesische Zeitung «Global Times» nennt Zenz einen «Schwindler unter akademischer Tarnung», der seine Berichte über die Unterdrückung der Uiguren fabriziere und mit separatistischen Mächten gegen China konspiriere. Aber in den letzten Jahren haben mehrere Untersuchungen von Forschern und Journalistinnen die Existenz der Umerziehungslager, die Überwachung und Unterdrückung der Uiguren bestätigt. Anhand von Satellitenbildern hat zum Beispiel der «Guardian» aufgezeigt, dass zwei Dutzend Moscheen seit 2016 zerstört worden sind. Ein Vergleich von Satellitenbildern der amerikanischen Nachrichten-Website Buzzfeed hat 315 Gebäude identifiziert, die wahrscheinlich als Teil der Umerziehungskampagne fungieren.

Geschätzte 1,5 Millionen Uiguren und Kasachen sollen in Xinjiang in Umerziehungslagern stecken. China nennt die Lager «Ausbildungszentren», die Terrorismus und Armut in der Region bekämpfen sollen. Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen oder der religiösen und kulturellen Unterdrückung weist China zurück. Vor der Uno unterstützen 45 Länder Chinas Xinjiang-Politik, darunter Russland, die Vereinigten Arabischen Emirate und Pakistan. 39 Länder kritisieren die Politik Chinas, darunter Deutschland, die Schweiz und die Vereinigten Staaten.