Chinas beunruhigendes Zukunftsmodell: Wenn Technologien zu Feinden der Demokratie werden

Chinas beunruhigendes Zukunftsmodell: Wenn Technologien zu Feinden der Demokratie werden

Neue Züricher Zeitung, 06.08.2019

Judith Kormann – China zeigt, was mit Überwachungstechnologie möglich ist. Es liefert autoritären Staaten nicht nur die Ausrüstung, sondern auch Inspiration. Das fordert Demokratien weltweit heraus.

Bill Clinton dürfte sich an den Kopf greifen, wenn er an diesen Moment zurückdenkt: Im Jahr 2000 spottete der damalige amerikanische Präsident über Chinas Bestrebungen, das Internet zu kontrollieren. Diese seien so aussichtsreich wie einen Wackelpudding an die Wand zu nageln.

Heute, fast zwanzig Jahre später, ist China – sofern man Clintons Gedanken weiterspinnt – mehr als diese Aufgabe gelungen. Das Regime in Peking kontrolliert nicht nur das Internet im Land, das es mit der Great Firewall weitgehend abgeschirmt hat. Es ist dabei, ein System zu errichten, in dem die 1,4 Milliarden Bürger online und im realen Leben so gut wie auf Schritt und Tritt überwacht werden können. Mehr noch, was China auf die Spitze treibt, droht sich zu einem Modell für autoritäre Regime weltweit zu entwickeln: das Bestreben, die eigenen Bürger durch neue Technologien zu kontrollieren. Immer lauter werden Warnungen vor einem «digitalen Autoritarismus».

Lange galt das Internet als Hoffnungsträger, als Medium, das freien Zugang zur Information bringt, jenen, die kein Gehör finden, eine Stimme gibt und im besten Fall zum Steigbügelhalter demokratischer Bestrebungen wird. Dass dieses Bild durchaus seine Berechtigung hat, zeigten nicht nur die Aufstände in Tunesien oder Ägypten 2011, die durch die sozialen Netzwerke befeuert wurden. Auch der Umstand, dass autoritäre Regierungen bei Protesten häufig den Zugang zum Internet oder zu sozialen Netzwerken sperren lassen, zeugt davon, dass sie sich der davon ausgehenden Gefahren bewusst sind.

Internet und neue Technologien als Waffe

Doch längst haben undemokratische Regime begonnen, das Internet zu ihrem Vorteil zu nutzen. Umstrittene Gesetze ermöglichen es Machthabern, gegen unliebsame Kritiker vorzugehen und diese unter Vorwänden wie «Verbreitung falscher Informationen» für kritische Beiträge in den sozialen Netzwerken ins Gefängnis zu stecken.

Armeen von Internet-Trollen oder Twitter-Robotern werden eingesetzt, um Dissidenten einzuschüchtern und die Meinungen in den sozialen Netzwerken bis über die Landesgrenzen hinaus zu beeinflussen. Künstliche Intelligenz hebt die Möglichkeiten, die Technik autoritären Regierungen bietet, auf eine neue Ebene. Überwachungskameras mit Gesichtserkennung etwa können Oppositionelle in einer Menge voller Menschen erspähen. Noch funktionieren diese Technologien nicht perfekt, doch sie werden besser. In der Hand eines autoritären Regimes werden sie zu einer mächtigen Waffe.

China hat das verstanden. In der Region Xinjiang, im Nordwesten des Landes, haben die Behörden ein Versuchslabor für digitale Unterdrückung errichtet. Dort wird die muslimische Minderheit der Uiguren nicht nur durch unzählige Polizeibeamte, sondern auch durch Strassenkameras an jeder Ecke – und selbst in den Moscheen –, durch Gesichtserkennung und durch obligatorische Zensur- und Spionage-Apps auf den Handys rund um die Uhr überwacht. Wer in den Augen der Behörden ein potenzieller Gefährder ist, der droht im Umerziehungslager zu landen.

Zwar ist das System in Xinjiang noch sehr personalintensiv, und seine Kosten sind nicht zu unterschätzen; 2017 sollen die Ausgaben für öffentliche Sicherheit in der Region mehr als 8 Milliarden Dollar betragen haben. Doch ein vergleichbares Überwachungsnetz ohne künstliche Intelligenz aufzubauen, würde um einiges teurer kommen. Mittlerweile verfolgen die Behörden Uiguren mithilfe von Gesichtserkennung sogar über die Region hinaus.

In der Region Xinjiang wird die Minderheit der Uiguren so gut bei jedem Schritt überwacht, hier in der Stadt Kashgar. (Bild: Thomas Peter / Reuters)

In der Region Xinjiang wird die Minderheit der Uiguren so gut bei jedem Schritt überwacht, hier in der Stadt Kashgar. (Bild: Thomas Peter / Reuters)

Die neuen Technologien ermöglichen Regimen nicht nur eine kostengünstigere, sondern auch eine viel breitere Überwachung. Diese führt im Extremfall zu einer Konditionierung der Bevölkerung: Aus Kontrolle wird Selbstkontrolle. Der Technologie-Korrespondent der «New York Times» in Schanghai, Paul Mozur, bringt es am Beispiel Chinas auf den Punkt: Dort könne selbst die Annahme, man werde überwacht, genügen, um die Bevölkerung auf Linie zu halten.

Chinas Überwachungsstaat wird zum Exportschlager

Mit seiner Rundumüberwachung ist China anderen autoritären Regimen mehr als eine Inspiration. Peking verbreitet sein Modell proaktiv, chinesische Unternehmen liefern in vielen Fällen die dazu nötige Technologie. Diese ist zu einem beliebten Exportgut geworden. Staaten, die sich die Technik nicht sogleich leisten könnten, gewährt China zudem Kredite.

Laut einem Bericht des amerikanischen Think-Tanks Freedom Housevom Oktober 2018 hat das Reich der Mitte Vertreter aus 36 Staaten empfangen zu Workshops und Ausbildungen zu Themen wie «cyberspace management». 18 Länder setzen demnach auf intelligente Überwachungssysteme aus China. Neben wenigen Demokratien stehen auf der Liste mehrheitlich Diktaturen und Staaten mit autoritären Tendenzen wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Rwanda, Aserbaidschan oder Kasachstan.

Auf den Zug springen selbst verarmte Länder wie Simbabwe auf, wo nach dem Despoten Robert Mugabe der Nachfolger Emmerson Mnangagwa ähnlich autoritär regiert. Im April 2018 hat Simbabwe ein Abkommen mit einem chinesischen Unternehmen unterzeichnet, um ein umfassendes Gesichtserkennungsprogramm im Land zu starten. Das chinesische Startup soll praktischerweise Zugang zu der dadurch entstehenden biometrischen Datenbank bekommen und so seine Algorithmen perfektionieren, die bei dunkelhäutigen Personen noch schlechter funktionieren.

Dass der Erfolg der Machthaber in Peking bei der digitalen Überwachung über die chinesischen Grenzen hinausstrahlt, ist keine Überraschung: Die autoritären und halbdemokratischen Regierungen auf der Welt suchen seit je nach Mitteln und Systemen zur Kontrolle und Machtsicherung. Nun hat China ein Modell geschaffen. Das birgt erhebliche Gefahren. Werden Teile des chinesischen Überwachungsstaats exportiert und andernorts im Sinne autoritärer Regime eingesetzt, dürfte die Hoffnung auf demokratische Fortschritte, auf eine politische Öffnung oder eine verbesserte Menschenrechtslage in Ländern wie Simbabwe oder den Vereinigten Arabischen Emiraten in weite Ferne rücken.

Demokratien sind nicht unbeteiligt

Was können demokratische Staaten dieser Bedrohung entgegensetzen? So beunruhigend die Entwicklung ist, es wäre ratsam, zunächst vor der eigenen Tür zu kehren. Gewiss, China gibt eine gefährliche Richtung vor. Doch westliche Unternehmen sind an der Entwicklung nicht unbeteiligt. Die Zensur des chinesischen Internets etwa machen auch Apple oder Microsoft mit, die den Zugang zum chinesischen Markt mit seinen rund 800 Millionen Internetnutzern nicht verlieren wollen. Nicht nur chinesische Unternehmen liefern Überwachungstechnologie an Regierungen mit zweifelhaftem Ruf. Das tun auch Firmen aus den USA oder Grossbritannien.

Die Frage der digitalen Überwachung stellt sich in Demokratien ebenfalls. In mehreren Staaten nutzt oder testet die Polizei mittlerweile Gesichtserkennung zur Verbrechensbekämpfung. Doch der Einsatz ist umstritten, die Technik ist noch fehleranfällig – und das Potenzial für Missbrauch ist gross. Ein kritischer Umgang mit digitaler Überwachung und strenge Regelungen dazu, wie und in welchen Fällen sie eingesetzt werden darf, sind unabdingbar.

Mit gutem Beispiel vorangehen

Unternehmen wie Facebook, Google oder Amazon sammeln massenhaft Daten über Internetnutzer zu kommerziellen Zwecken. Dass diese nicht vor Missbrauch geschützt sind, ist bekannt. Das Bewusstsein für diese Probleme ist in den vergangenen Jahren gewachsen. Doch es braucht eine enge Zusammenarbeit zwischen Regierungen, Internetkonzernen und der Zivilgesellschaft, um weiter gegen Datenmissbrauch und exzessive Überwachung anzukämpfen.

Die Zivilgesellschaft ist gefordert, Druck auf die Konzerne auszuüben: zum Schutz der eigenen Daten, aber auch um zu verhindern, dass Unternehmen zu Handlangern autoritärer Regime werden. Dass dies gelingen kann, zeigt das Beispiel «Dragonfly»: Als Medien im August 2018 Googles Pläne enthüllten, eine zensierte Suchmaschine auf den chinesischen Markt zu bringen, die noch dazu die Identifizierung von Dissidenten ermöglichen sollte, liefen Mitarbeiter und Menschenrechtsorganisationen dagegen Sturm. Mittlerweile sagt Google, man habe das Projekt beerdigt.

Auch die Regierungen in der demokratischen Welt müssen kritischer mit diesen Herausforderungen umgehen. Nur mit dem Finger auf Peking zu zeigen, ist zu einfach. Wichtig wäre, selbst einen verantwortungsvollen Umgang mit neuen Technologien zu pflegen und mit gutem Beispiel voranzugehen. China zeichnet ein düsteres Bild davon, was mit der Technik alles möglich ist. Ob sich das Modell durchsetzen wird, wird auch davon abhängen, wie entschieden Demokratien gegensteuern.

https://www.nzz.ch/meinung/chinas-zukunft-technologien-werden-zum-feind-der-demokratie-ld.1499377