Zuerst behauptete Peking, die Lager in Xinjiang gebe es nicht. Jetzt heisst es, die Insassen dürften nach Hause

Zuerst behauptete Peking, die Lager in Xinjiang gebe es nicht. Jetzt heisst es, die Insassen dürften nach Hause

Neue Züricher Zeitung, 31.07.2019

Patrick Zoll – Die Umerziehungslager in Xinjiang – die Peking offiziell als Berufsbildungszentren bezeichnet – sollen sich leeren. Doch die offiziellen Angaben stossen bei Experten auf Misstrauen.

Die Lokalregierung von Xinjiang will positive Nachrichten verbreiten: Die meisten Insassen der Gefangenenlager in Xinjiang hätten diese verlassen und seien «in die Gesellschaft zurückgekehrt», sagten Shohrat Zakir und Alken Tuniaz, der Regierungsvorsitzende der westchinesischen Region und sein Vize, am Dienstag an einer Pressekonferenz in Peking. Die meisten hätten erfolgreich Jobs gefunden, sagte Tuniaz: «90 Prozent der Studenten sind in die Gesellschaft zurückgekehrt, zu ihren Familien, und leben glücklich.»

Keine Angaben zur Zahl der Insassen

Mit dem Begriff «Studenten» folgt Tuniaz der offiziellen Linie Pekings, dass es sich bei den Lagern in Xinjiang um Berufsbildungszentren handeln soll. Westliche Experten sprechen hingegen von Umerziehungslagern, in denen der muslimischen Minderheit die Werte der Kommunistischen Partei und der han-chinesischen Bevölkerungsmehrheit eingetrichtert werden.

Nach Schätzungen von Experten werden eine bis eineinhalb Millionen Menschen, vorwiegend Uiguren, aber auch Kasachen und Kirgisen in den Lagern gegen ihren Willen festgehalten. Die Lager sind von hohen Mauern mit Wachtürmen umgeben, und der Zugang zur Aussenwelt wird streng kontrolliert. Die Vertreter der Lokalregierung machten an ihrer Pressekonferenz keine Angaben, wie viele Menschen sich in den Lagern befinden oder befunden haben.

Misstrauen bei Experten

Bei Menschenrechtsorganisationen und Vertretern der Uiguren im Exil stösst die Ankündigung auf Misstrauen. Der World Uyghur Congress, eine Exilorganisation der Uiguren mit Sitz in München, rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, skeptisch zu bleiben. Denn China habe in Bezug auf die Lager vielfach Fehlinformationen verbreitet. Nachdem deren Existenz im vergangenen Jahr bekannt geworden war, leugnete Peking sie zuerst, bevor es die Lager als Berufsbildungszentren darzustellen begann.

Auch wird es schwierig sein, die Angaben der Regierung zu überprüfen. In China stationierte Korrespondenten können zwar nach Xinjiang reisen, werden dort aber streng überwacht und bei den Recherchen regelmässig behindert. Die lokale Bevölkerung traut sich aus Angst vor Repressalien kaum, mit Journalisten zu sprechen. Augenzeugenberichte zu den Lagern kommen daher fast ausschliesslich von ehemaligen Insassen, die China verlassen haben, oder von im Ausland lebenden Angehörigen.

In den letzten Monaten hat Peking verschiedentlich Reisen für ausländische Journalisten und Diplomaten organisiert – das Programm ist jeweils eng getaktet, die Besuche in den Lagern wirken inszeniert, und selbständige Recherchen sind unmöglich. Eine unabhängige Untersuchung durch Menschenrechtsorganisationen oder Experten der Uno lehnt Peking ab, weil es dies als Einmischung in seine inneren Angelegenheiten betrachtet.

Allgegenwärtige Überwachung

Selbst wenn die Angaben der Lokalregierung stimmen sollten, heisst das noch lange nicht, dass die muslimischen Minderheiten in Xinjiang nach der Entlassung in Freiheit leben.

Die Kommunistische Partei hat unter dem Parteisekretär Chen Quanguo, der früher in Tibet tätig war, ein flächendeckendes, engmaschiges Überwachungsnetz aufgezogen: Kameras spähen praktisch jeden Winkel aus, an strategischen Orten, wie etwa dem Eingang zu Märkten, müssen sich die Bewohner ausweisen, und alle paar hundert Meter steht ein Polizeiposten. Ein Kenner der Region bezeichnet deshalb die Provinz Xinjiang als ein grosses Gefängnis.

Diplomatische Offensive

Darüber, dass die chinesischen Behörden gerade jetzt eine Medienkonferenz ansetzen, kann nur spekuliert werden. Möglich ist, dass Peking so versucht, einer möglichen Diskussion an der anstehenden Generalversammlung der Uno im September zuvorzukommen.

Aus westlichen Ländern, insbesondere den USA, wird die Kritik an Pekings Vorgehen in Xinjiang lauter. Doch die chinesische Diplomatie kann auch Erfolge verbuchen: Nachdem 22 westliche Länder China in einem Brief wegen Xinjiang kritisiert hatten, stellten sich 37 andere Länder explizit hinter Peking – weitere Länder schlossen sich später Pekings Position an.

Die «Global Times», das internationale Sprachrohr der Kommunistischen Partei Chinas, kommentierte daraufhin triumphierend, dass das deutliche Kräfteverhältnis die Menschenrechte neu definiert habe. Der Westen habe wegen Xinjiang eine der skrupellosesten Attacken seit Jahren gegen China in Sachen Menschenrechten losgetreten. Einzelne westliche Länder glaubten, dass ihre Werte universell seien, schreibt die «Global Times», doch die Länder, die China unterstützten, hätten begriffen, dass die chinesische Regierung einzig den Terrorismus und den Extremismus in Xinjiang zu bekämpfen versuche.

https://www.nzz.ch/international/xinjiang-insassen-sollen-angeblich-die-lager-verlassen-koennen-ld.1499227