Wie Peking die Autonome Uigurische Region zum Polizeistaat gemacht hat

Wie Peking die Autonome Uigurische Region zum Polizeistaat gemacht hat

NZZ, 17.02.2018

In der Autonomen Uigurischen Region Xinjiang haben die chinesischen Behörden schon länger die Repressionsschraube angezogen. Im Kampf gegen Islamismus und Separatismus werden die Grundsätze des Rechtsstaats schamlos missachtet.

Vor vier Jahren wurde der bekannte uigurische Wirtschaftswissenschafter Ilham Tohti von den chinesischen Behörden verhaftet. Ihm droht eine lebenslange Haftstrafe wegen «Separatismus». Verschiedene Kommentatoren sagten damals, dass dies der Auftakt zu einer grossangelegten Repressionskampagne Pekings in der Autonomen Uigurischen Region Xinjiang sein könnte mit dem Ziel, ethnische Spannungen zu unterdrücken und gemässigte uigurische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Sie hatten recht: Die Region ist inzwischen ein umfassender Polizeistaat.

Xinjiang ist heute geprägt von allgegenwärtiger polizeilicher und elektronischer Überwachung, überfüllten Haftzentren, schwerbewaffneten Sicherheitskräften in den Strassen, ubiquitären Checkpoints und einer Vielzahl von menschenrechtswidrigen Eingriffen in die Privatsphäre und die Freiheitsrechte der Uiguren.

Ein nie gekanntes Ausmass

Die systematische Diskriminierung der Uiguren – eines mehrheitlich muslimischen Turkvolks – ist nicht neu: Unter dem Vorwand des Kampfes gegen «Separatismus» sind sie seit den achtziger Jahren Ziel staatlicher chinesischer Verfolgung. Willkürliche Verhaftungen, Unterbringung in teilweise geheimen Haftanstalten, Einschränkungen der Religionsfreiheit und ihrer wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sind leider normal. In den zwei Jahren, in denen Chen Quanguo in Xinjiang Parteichef ist, ist die Region zum Testlabor für die weitreichendsten Repressionsmassnahmen geworden, die China in den letzten Jahrzehnten gesehen hat.

Um Stabilität zu schaffen, wäre es nötig, den Menschen die Freiheit zu lassen, ihre Religion und ihre Kultur ohne Angst vor Verfolgung zu leben.

Die wenigen Journalisten, die Xinjiang in den letzten Jahren besuchen konnten, berichten von zahllosen Checkpoints auf den Strassen, von Sicherheitskontrollen und Metalldetektoren bei den Eingängen zu öffentlichen Parks und systematischen Stichproben bei Mobiltelefonen. Sie sollen sicherstellen, dass eine neue, für alle Geräte obligatorische Sicherheits-App installiert ist.

Die Behörden haben die Überwachung auf ein nie da gewesenes Ausmass gehoben und benutzen dafür namentlich Datenbanken unter Einsatz der neuesten Technologien wie DNA, Biometrik oder Gesichtserkennung. In diesen «Police Clouds» genannten Big-Data-Plattformen sammelt und analysiert die Polizei alle möglichen Informationen, um gesellschaftliche Gruppen zu überwachen, die ihrer Ansicht nach die «soziale Stabilität» bedrohen.

Während «Big Brother» jede Bewegung überwacht, haben die Behörden den Druck auf diejenigen Uiguren verdoppelt, die ihre Religion praktizieren. Anpassungen in der Regulierung religiöser Angelegenheiten stellen seit 2017 die staatliche Kontrolle über sämtliche Aspekte der Religionsanwendung sicher. Im März in Xinjiang eingeführte «Deradikalisierungs»-Massnahmen richten sich dabei offensichtlich gegen Muslime, indem sie das Tragen «abnormaler Bärte», die Weigerung, zu rauchen und während des Ramadans Alkohol zu verkaufen, als «extremistisch» deklarieren. Neue Regeln verbieten für Neugeborene und alle unter 16 Jahren sogar die Verwendung islamischer Namen.

Uiguren, die im Ausland studierten, wurden angewiesen, nach Hause zurückzukehren. Regierungen von Drittstaaten haben daraufhin uigurische und andere chinesische Studierende vorgeladen und zu ihren Studien und Aktivitäten verhört. Im Juli 2017 erhielt Amnesty International glaubhafte Berichte, wonach mindestens 22 uigurische Studierende von Ägypten zwangsweise nach China zurückgebracht wurden. Zwei Studenten, die freiwillig aus Ägypten zurückgekehrt sind, starben in Polizeigewahrsam.

Aufruhr und Spaltung

Im Zuge der Repressionskampagne werden Tausende von Uiguren und anderen Muslimen in «Zentren gegen Extremismus», «Zentren für politische Studien» sowie «Ausbildungs- und Umerziehungszentren» festgehalten – während Monaten, ohne jede unabhängige richterliche Überprüfung, ohne Zugang zu anwaltlichem Beistand und Kontakt zu Angehörigen. Dies nur deshalb, weil sie etwa im Besitz eines Korans waren, im Ausland studierten oder Verwandte im Ausland haben.

Die Behörden begründen die Repression mit dem Schutz der Nation und dem Kampf gegen «Terrorismus» und «Extremismus». Die 2014 landesweit eingeführte Gesetzgebung zur nationalen Sicherheit enthält vage formulierte Gesetze, welche Missbrauch Tür und Tor öffnen.

Jeder Staat hat das Recht und die Pflicht, seine Bürgerinnen und Bürger vor Angriffen auf die Bevölkerung und die öffentliche Ordnung zu schützen. Entsprechende Massnahmen müssen jedoch verhältnismässig sein und so genau wie möglich auf eine spezifische Bedrohung zielen. Was aber in China geschieht, sind Überreaktionen. Es werden ganze ethnische oder religiöse Gruppen verunglimpft, statt dass Individuen, welche das Recht verletzt haben, strafrechtlich verfolgt werden.

Ebendiese Verunglimpfung hat Ilham Tohti in seinen Schriften angeklagt. Er gab seiner Sorge Ausdruck, dass seine Heimatregion in «Aufruhr und Spaltung» geraten könnte, und sprach sich selbst für «harmonische ethnische Koexistenz» aus. Er glaube, so sagte er, «dass es eine unserer wichtigsten Aufgaben und Missionen ist, auf dem Marktplatz der Ideen rationale und konstruktive Argumente gegen extremere Stimmen einzubringen». Es ist dies genau das Gegenteil jenes «Separatismus», dessen man ihn angeklagt hat.

Die Menschen unter Missachtung der Menschenrechte in einem Polizeistaat einzupferchen, wird mittel- und langfristig nicht zur «Stabilität», dem deklarierten Ziel der chinesischen Regierung, führen. Dafür wäre es nötig, den Menschen die Freiheit zu lassen, ihre Religion und ihre Kultur ohne Angst vor Verfolgung zu leben. Ilham Tohti weiss das. Indem die chinesischen Behörden ihn hinter Gitter brachten, haben sie eine gemässigte Stimme zum Schweigen gebracht, die genau zu dem beitragen könnte, was sie zu suchen vorgeben.