Chinas Umgang mit den Uiguren nähert sich dem Genozid

Chinas Umgang mit den Uiguren nähert sich dem Genozid

INFOsperber, 18.11.2019

Daniela Gschweng – Schläge, Folter, Vergewaltigungen, Medikamententests – so sieht es in den chinesischen «Umerziehungslagern» in Wirklichkeit aus.

Von China wurde es über Jahre hinweg verheimlicht, doch jetzt gelangen mehr und mehr Informationen nach aussen: Im Westen Chinas werden um eine Million Menschen oder gar mehr in sogenannten Umerziehungslagern gefangen gehalten. Die meisten der Gefangenen sind muslimische Uiguren, ein ethnisch den Türken verwandtes Volk. Nun sind der New York Times vertrauliche Dokumente zugespielt worden mit regierungsinternen Anweisungen, wie mit den Uiguren umzugehen sei. Das Schweizer Radio SRF hat im «Echo der Zeit» gestern Sonntag darüber berichtet. Ein Interactive der «New York Times» mit den Originaldokumenten findet sich hier.

Die israelische Tageszeitung «Haaretz» hat schon am 17. Oktober 2019 einen längeren Bericht über so ein Lager publiziert, basierend auf den Aussagen einer Kasachin, die in einem Lager den Insassen die chinesische Sprache unterrichten musste und der dann die Flucht gelang.

In Chinas Provinz Xinjiang sind schätzungsweise ein bis zwei Millionen Menschen in Lagern interniert. Die meisten gehören der muslimischen Ethnie der Uiguren an. Journalisten ist der Zugang nur in sehr begrenztem Umfang gestattet. Lange hat China bestritten, dass es diese Lager überhaupt gibt. Nur selten gelangt einer der wenigen Augenzeugenberichte an die Öffentlichkeit.

Sayragul Sauytbay ist Muslimin und gehört der kasachischen Ethnie an. Ihre Muttersprache ist Kasachisch. Die 43-Jährige war monatelang in einem chinesischen Umerziehungslager eingesperrt. Danach gelang ihr, was nur wenige schaffen: sowohl das Lager wie auch China hinter sich zu lassen. Inzwischen lebt sie als Asylantin in Schweden. Aus dem, was Sauytbay einem Reporter von «Haaretz» berichtet hat, wird deutlich, dass die chinesischen Lager in Xinjiang mehr sind als blosse Gefängnisse. Sie sind Gulags.

Offiziell sind die Lager Bildungsanstalten

«Die Gefangenen wurden geschoren und trugen Tag und Nacht Handschellen, ausser zum Schreiben» sagt Sauytbay. Auch ohne Folter, Bestrafungen und Schikanen ist ihr Leben hart. «In einem Raum von 16 Quadratmetern waren fast 20 Personen», erzählt sie. In jedem Raum seien mehrere Kameras, als Toilette diene ein Eimer. «Jeder Gefangene hat zwei Minuten, um sich zu erleichtern. Wenn der Eimer voll ist, muss er bis zum nächsten Tag warten», präzisiert sie. Die hygienischen Verhältnisse seien «grauenhaft» gewesen.

Ein grosser Teil der Bevölkerung in Xinjiang besteht aus Angehörigen von Turkvölkern. Vor allem diese werden in den Lagern interniert. Für die kommunistische Partei sind sowohl ihre ethnische Identität wie auch ihr islamischer Glaube ein Problem. Offiziell dienen diese «Umerziehungslager» dem Kampf gegen Terrorismus, als kostenlose Bildungszentren und zur Integration der Minderheiten in Xinjiang, oder allerhöchstens noch dazu, aus renitenten Minderheiten folgsame Bürger zu machen.

Sauytbay, die an der chinesisch-kasachischen Grenze aufgewachsen ist, fehlte es weder an Integration noch an Bildung oder Arbeit. Nach einer Ausbildung im Gesundheitsbereich wurde sie Chinesischlehrerin und war jahrelang beim chinesischen Staat angestellt. Eine Tätigkeit, die sie auch als Gefangene ausüben musste.

Es kann fast jeden treffen

Ihre Aufgabe sei es gewesen, anderen Gefangenen Chinesisch beizubringen und mit ihnen Propagandalieder zu singen, berichtet sie. Das verschaffte ihr eine privilegierte Position. Sie bekam ein Zimmer für sich und konnte sich ohne Handschellen bewegen. Sie erzählt von systematischen Vergewaltigungen, Bestrafungen wegen Lappalien und einem «schwarzen Raum», in den die Gefangenen gebracht wurden, um sie zu foltern. «Es gab dort alle möglichen Arten von Folter. Einige Gefangene wurden an die Wand gehängt und mit elektrischen Knüppeln geschlagen. Es gab Gefangene, die auf einem Nagelsessel sitzen mussten. Ich sah, wie Leute blutüberströmt aus dem Raum zurückkehrten. Einige kamen ohne Fingernägel wieder», berichtet sie.

Seit China gegen Minderheiten in Xinjiang vorgeht, kann quasi jeder in einem solchen Lager landen. Um wegen Separatismus und Terrorismus verhaftet zu werden, reicht es aus, Angehöriger eines Turkvolkes zu sein, Kontakte ins Ausland zu haben oder auch nur ein Bild eines türkischen Popstars auf dem Handy. Von den 20 Millionen Menschen, die in der autonomen Region Xinjiang leben, sind nur etwa 40 Prozent Chinesen. Die grösste Bevölkerungsgruppe sind die Uiguren, dazu kommen Kasachen und Kirgisen. Die chinesische Regierung versucht, den Anteil der Chinesen zu vergrössern. Seit Jahrzehnten gibt es deshalb Spannungen in Xinjiang.

«Sie kamen nachts zu mir nach Hause, stülpten mir einen schwarzen Sack über den Kopf»

Sauytbay hat erlebt, wie sich die Lage der Minderheiten in den vergangenen Jahren verschlechtert hat. 2014 gab es die ersten Repressionen. Zwei Jahre später gelang es ihrem Mann mit den beiden Kindern nach Kasachstan auszureisen. Sie selbst wartete vergebens auf ein Visum. Die Regierung nahm der Bevölkerung die Pässe und SIM-Karten ab und wollte DNA-Proben. Wenig später wurden die ersten Lager eröffnet. 2017 wurde die Lehrerin erstmals festgenommen.

«Sie kamen nachts zu mir nach Hause, stülpten mir einen schwarzen Sack über den Kopf und brachten mich an einen Ort, der aussah wie ein Gefängnis», erinnert sie sich. Ihr wurde aufgetragen, ihren Mann nach China zurückzubeordern. Sauytbay brach den Kontakt zu ihrer Familie ab, weil sie befürchtete, er werde bei seiner Einreise sofort festgenommen. Andere Verhöre folgten. Im November 2017 wurde sie in ein Lager gebracht, wieder mit einem Sack über dem Kopf. Sie weiss bis heute nicht, wohin. Nach ihrer Ankunft musste sie ein Dokument unterschreiben, in dem ihr verboten wurde, mit anderen Gefangenen zu sprechen, zu lachen, zu weinen und Fragen zu beantworten.

Gefangene jeden Alters und jedes Berufes

In den folgenden Monaten begann ihr Tag um sechs Uhr morgens. Nach einem mageren Frühstück folgte Chinesischunterricht, gefolgt von chinesischen Propagandaliedern und dem Rezitieren von Slogans wie «Ich liebe China». Die Nachmittag- und Abendstunden waren für das Bekennen von Vergehen reserviert. «Als Vergehen konnte alles gelten, von mangelhafter Kenntnis der chinesischen Sprache und Kultur über unmoralisches Benehmen», sagt Sauytbay. Gefangene, denen nicht genügend Vergehen eingefallen seien, seien bestraft worden. Anschliessend bekamen alle bis Mitternacht Zeit, ihre Selbstbezichtigung niederzuschreiben.

Sauytbay (2. v.r) mit ihrer Familie in Kasachstan. (GfbV)

Sauytbays Mitgefangene waren Menschen jeden Alters und jedes Berufes. Der Jüngste, den sie kennenlernte, war ein 13-jähriger Junge, die älteste eine 84-jährige Frau. Vergewaltigungen seien in den Lagern an der Tagesordnung, sagt sie, was sich mit Berichten anderer ehemaliger Gefangener deckt. In Teilen erinnern ihre Aussagen an Berichte von IS-Gefangenen oder Häftlingen der Folterlager in Libyen. Zwischen den Methoden von Erpressern, Terroristen und denen, die Terrorismus zu bekämpfen vorgeben, gibt es offensichtlich keinen grossen Unterschied.

Sauytbays furchtbarste Erinnerung ist eine öffentliche Vergewaltigung vor 200 Gefangenen. Wer die Augen schloss oder wegsah, wurde weggebracht und tauchte nie wieder auf. Sie fühlte sich schrecklich hilflos. «Danach konnte ich nachts nicht mehr richtig schlafen», sagt sie. Nach ihrer Entlassung gelang ihr die Flucht nach Kasachstan.

Medikamente, die man nicht nehmen sollte

Sauytbay berichtet von Tabletten und Injektionen, die die Gefangenen bekommen, angeblich zur Vorbeugung von Krankheiten. Die Krankenpflegerinnen hätten sie im Geheimen davor gewarnt, die Pillen zu nehmen. Häftlinge leiden in Folge unter kognitivem Verfall, sagt sie. Frauen menstruierten nicht mehr, Gerüchten zufolge würden Männer steril. Wird eine Frau schwanger, berichten andere Quellen, wird sie einer Abtreibung unterzogen. Wer krank sei, bekomme jedoch keinerlei Hilfe.

Sauytbay schätzt, dass in ihrem Lager, einem neueren Gebäude aus Beton, etwa 2‘500 Menschen festgehalten wurden. Wie viele dieser Lager es genau gibt, ist unbekannt, vermutlich Dutzende. Sicher ist, dass in den vergangenen zwei Jahren einige neu gebaut wurden, das zeigen Satellitenbilder.

Einer dieser Komplexe soll nach Schätzungen von Fachleuten über 10‘000 Häftlinge fassen. Die Repression wird so bald also nicht aufhören, egal wie deutlich westliche Diplomaten auf die Menschenrechtslage im Land zu sprechen kommen. Viele Menschen werden dort Jahre verbringen, für minimale oder erfundene Verbrechen. China schreckt auch nicht davor zurück, Kinder von ihren Eltern zu trennen, um sie von ihrer kulturellen Herkunft abzuschneiden.

Am seidenen Faden

Für die chinesische Regierung ist Xinjiang im Nordwesten des Landes von strategischer Bedeutung, vor allem hinsichtlich des Projekts «Neue Seidenstrasse». Die autonome Region wird mit Hochdruck industrialisiert und nimmt eine wichtige Rolle ein. Ethnien, die im ganzen Land eine Minderheit, in Xinjiang aber eine Mehrheit darstellen, stören da nur.

Mitunter auch ein Grund, weshalb sich muslimische Staaten kaum bis gar nicht zur Situation der Uiguren, Kirgisen und Kasachen äussern, deren Kultur im Begriff ist, von China ausradiert zu werden. Einige dieser Staaten sind in diesem Zusammenhang von China abhängig oder an Projekten beteiligt. Tatsächlich unterstützten 37 Staaten im Juli das Vorgehen Chinas in Xinjiang gegenüber den Vereinten Nationen. Darunter Saudi-Arabien, Syrien, Kuwait und Bahrain – selber ebenfalls keine lupenreine Demokratien.

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Stellungnahme der chinesischen Botschaft in Israel

zum Bericht der Zeitung Haaretz kann man hier konsultieren.

https://www.infosperber.ch/Artikel/Politik/Der-institutionalisierte-Genozid