China vernichtet Uiguren, die Welt schaut zu
ntv, 07.09.2020
Unten ein Artikel aus der ntv, Foto imago images/ZUMA Wire.
Die allermeisten Uiguren leben ganz im Westen der chinesischen Volksrepublik in einer Region, die an Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan grenzt. Sie glauben an den Islam statt an den Kommunismus und sprechen eine Turksprache statt Mandarin. Und sie sehnen sich nach Autonomie für Ostturkestan, wie sie die chinesische Provinz Xinjiang nennen. Das will die Führung der Kommunistischen Partei Chinas (KP) aber mit allen Mitteln verhindern.
Sie steckt uigurische und muslimische Minderheiten seit 2014 in Umerziehungslager. Deren Existenz hat die KP anfangs noch bestritten, mittlerweile spricht sie von „Berufsbildungszentren“, in denen die Uiguren angeblich freiwillig eine Ausbildung machen und Sprachunterricht nehmen, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. „Aber das ist natürlich nicht überzeugend, wenn man sich anguckt, wer in solchen Trainingszentren landet“, sagt Katja Drinhausen vom Mercator-Institut für China-Studien (Merics) im ntv-Podcast „Wieder was gelernt“. Darunter seien viele hochgebildete Menschen, die keine berufliche Ausbildung notwendig hätten.
Katja Drinhausen beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie die Kommunistische Partei regiert. Im Fall der Uiguren mit einer mehr als harten Hand. Berichte von Menschenrechtsorganisationen, Investigativ-Journalisten und Exil-Uiguren haben ein Bild zusammengesetzt, das viele Menschen schockieren sollte. Erst kam der Polizeistaat, in dem jede Bewegung, jeder Anruf, jede App auf dem Smartphone überwacht wird. Es folgten willkürliche Festnahmen und Berichte über Uiguren, die in den Umerziehungslagern monate- oder jahrelang ohne Anklage oder Prozess festgehalten werden.
Geburtenrate sinkt um 60 Prozent
Ende 2019 wurden geheime Papiere der chinesischen Regierung bekannt. Die sogenannten „China Cables“ belegen, dass es den muslimischen Minderheiten dort verboten ist, ihre Sprache zu sprechen oder ihre Religion auszuüben. Sie würden beim Toilettengang, beim Schlafen und beim Schulunterricht überwacht, heißt es. Wer sich der „Umerziehung“ widersetze, werde bestraft. Mehr als eine Million Menschen, vor allem Uiguren, waren davon zwischen 2017 und 2018 betroffen.
„Die systematische Internierung einer ganzen ethno-religiösen Minderheit ist, vom Ausmaß her, vermutlich die größte seit dem Holocaust“, hat China-Forscher Adrian Zenz über die geheimen Dokumente gesagt, an deren Enthüllung er beteiligt war. Er sprach von einem „kulturellen Genozid“.
Dieses Jahr im Juni wurde bekannt, dass Peking längst nicht mehr nur eine Kultur vernichten will. Gemeinsam mit der Nachrichtenagentur AP enthüllte China-Forscher Zenz, dass die KP auch Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibungen bei Uiguren vornehmen lässt. Maßnahmen, die in der Völkermord-Konvention ausdrücklich als Charakteristika eines Genozids aufgeführt werden. Anscheinend erfolgreich, das zeigen die offiziellen Statistiken: Von 2015 bis 2018 ist die Geburtenrate in Xinjiang um mehr als 60 Prozent gesunken.
Kritik wird kostspielig
Aber die Empörung hält sich in Grenzen. Die islamische Welt, die sonst immer sehr solidarisch zeigt, wenn sie ihre Werte bedroht sieht, schweigt. Auch die Bundesregierung, trotz der deutschen Geschichte. Katja Drinhausen macht dafür unterschiedliche Gründe aus. Die Volksrepublik sei schon immer ein großer Verfechter des Prinzips der Nichteinmischung und der absoluten Souveränität über die eigene Bevölkerung gewesen, sagt die China-Expertin. Andererseits sei das Land für viele Staaten ein wichtiger geopolitischer Partner, aber auch ein wichtiger Handelspartner. Und gerade das prominente Beispiel Hongkong zeige, dass zu deutliche Kritik sehr kostspielig werden könne.
Geld ist aber nicht der einzige Grund, warum die Staatengemeinschaft schweigt. Die Stille hängt auch mit einer sehr zynischen Ursache zusammen: China begeht den Völkermord an den Uiguren sehr langsam und unblutig. Niemand wird an die Wand gestellt und erschossen. Niemand wird in Gaskammern geschickt. Niemandem wird mit einer Machete der Kopf abgetrennt. Der Genozid ist praktisch unsichtbar.
„Minimalinvasiver“ Genozid
„Die chinesische Führung geht minimalinvasiv vor“, sagt Katja Drinhausen. „Wenn man als Tourist durch Xinjiang fährt, sieht man keine Lager oder Menschen, die abtransportiert werden, im Gegenteil: Im staatlichen Propaganda-Fernsehen sieht man vor allem glückliche Uiguren, die sich über die Chancen freuen, die ihnen die Kommunistische Partei eröffnet. Das ist auf eine ganz andere Weise konzipiert und orchestriert als alles, was wir in der Vergangenheit hatten.“
Katja Drinhausen scheut sich deshalb sogar selbst, den Begriff „Genozid“ zu verwenden. Sie appelliert an die Vereinten Nationen, die Definition zu überdenken, damit Völkermord nicht nur das abdeckt, was im Zweiten Weltkrieg in Nazideutschland passiert ist oder in den 90er Jahren in Ruanda und Srebrenica, sondern auch die moderne, technische, unsichtbare Auslöschung einer Bevölkerungsgruppe.
Denn das chinesische Vorgehen in Hongkong zeigt, dass die chinesische Führung derzeit zu allem bereit scheint, um vermeintliche Abspaltungspläne zu stoppen und angeblichen Extremismus einzudämmen. Die internationale Gemeinschaft sollte ihre Empörung darüber lieber jetzt lautstark äußern. Für die Uiguren kommt sie sonst womöglich zu spät.