Nur jeder dritte Mittelständler hat seine Lieferketten auf Nachhaltigkeit überprüft

Nur jeder dritte Mittelständler hat seine Lieferketten auf Nachhaltigkeit überprüft

Handelsblatt, 21.08.2021

Unten ein Artikel aus der Handelsblatt, Foto obs.

Der deutsche Mittelstand hat Nachholbedarf beim Thema Nachhaltigkeit – vor allem mit Blick auf seine Lieferketten. Das belegt eine repräsentative Sonderauswertung einer Umfrage der DZ Bank, in der 1.000 Geschäftsführer und Entscheider zur Nachhaltigkeit in ihren Unternehmen befragt worden sind.

Zwar hätten viele Firmen schon erste Maßnahmen ergriffen, um den Ressourcenverbrauch in den Unternehmen zu verringern, aber beim Thema Gleichstellung und Menschenrechte seien viele heute noch nicht wirklich gut aufgestellt. Das zeige sich besonders beim Thema Lieferketten: Weniger als 30 Prozent berücksichtigen laut Umfrage Nachhaltigkeitskriterien bei der Auswahl ihrer Lieferanten, in der Baubranche sind es sogar nur 20 Prozent. Dabei ist die Zeit knapp.

Das von der Bundesregierung im Juni beschlossene Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz tritt zum Jahresbeginn 2023 in Kraft, zunächst für Unternehmen mit mehr als 3000 Mitarbeitern, ein Jahr später gilt es auch für Unternehmen ab 1000 Mitarbeitern. Das Gesetz ist eine Reaktion auf eine Umfrage der Bundesregierung aus dem Frühjahr 2020, danach hatten sich nur 17 Prozent der Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern an die Leitlinien der Vereinten Nationen gehalten.

„Für die Unternehmen ist es fünf vor zwölf. In den kommenden 16 Monaten müssen sie Abläufe schaffen, mit denen sie ihre Lieferanten prüfen und kontrollieren und im Ernstfall präventiv eingreifen“, sagt Uwe Berghaus, Firmenkundenvorstand der DZ Bank. „Gleichzeitig bietet das Lieferkettengesetz auch die Chance, das eigene Geschäftsmodell für eine nachhaltige Wirtschaft fit zu machen. Besonders innovative Lösungen können die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen steigern.“

Hinzu käme laut DZ-Bank-Studie, dass mittelbar auch viele kleinere Firmen in die Berichtspflicht kommen würden, wenn sie an die unmittelbar vom Gesetz betroffenen Unternehmen liefern.

Nachhaltigkeit ist Verbrauchern immer wichtiger

Zu diesem Ergebnis kommt auch das Handelsblatt Research Institute HRI in einer ökonomischen Analyse zum Thema Nachhaltigkeit der Lieferketten für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. HRI-Experte Frank Christian May, einer der Autoren der Analyse, sieht noch mehr Handlungsdruck, denn „in der EU wird an einem Lieferkettengesetz gearbeitet, das bereits ab einer Mitarbeiterzahl von 250 Mitarbeitern gilt“. Es könnte schon im kommenden Jahr verabschiedet werden.

Dass Handlungsdruck in der Politik besteht und Handlungsbedarf auf die Unternehmen zukommt, zeigte auch eine Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), wonach zum Jahresbeginn 2020 rund 160 Millionen Kinder arbeiten mussten, erstmals seit Jahren sei die Kinderarbeit wieder gestiegen – um 5,5 Prozent.

Hinzu kommt: Die Verbraucher werden immer sensibler für diese Themen. Sie wollen mehr über die Herstellung der Produkte erfahren und mit gutem Gewissen kaufen. Laut einer Umfrage von Infratest Dimap unterstützen 75 Prozent ein Lieferkettengesetz. Auch Investoren und Banken achten verstärkt darauf.

Für die Firmen ist ein Blick auf diejenigen Unternehmen hilfreich, die sich schon länger mit ihren Lieferketten befassen, vor allem in der Textilindustrie. 2013 waren 1.100 Mitarbeiterinnen in der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch gestorben. Die ganze Branche arbeitet seitdem an Konzepten.

Beim Oberbekleidungsanbieter Gerry Weber gibt es zum Beispiel ein zweistufiges Auswahlverfahren mit eigenen Mitarbeitern sowie durch externe Audits nach dem Amfori-BSCI-Standard vor Ort, erklärt Annette Koch, Nachhaltigkeitschefin beim Textilfilialisten.

Standards brauchen beides: Mitarbeiter vor Ort und externe Audits

Sie urteilt, dass für ein umfassendes Kontroll-Management beides benötigt werde. Externe Auditoren mit länderspezifischen Kenntnissen und vor allem Kenntnis der Landessprache seien in der Lage, vertrauliche Gespräche mit Mitarbeitern der Lieferanten zu führen und Dokumente zu prüfen. Genauso wichtig sei die Präsenz eigener Mitarbeiter vor Ort. Hinzu kommt ein nachhaltiges Chemikalienmanagement und der Einsatz nachhaltiger Rohstoffe als Voraussetzung. „Nachhaltigkeit muss ein Teil der DNA des Unternehmens sein“, sagt Koch.

Bereits vor dem Unglück in Bangladesch hatte der Hemdenhersteller Seidensticker das Lieferketten-Problem ins Visier genommen. Man war wie alle Textilhersteller mit der Produktion nach Asien gegangen, erzählt Gerd Oliver Seidensticker, aber man sei dort mit den Kontrollen nicht zufrieden gewesen.

Bereits 2007 begann das Familienunternehmen, eigene Fabriken aufzubauen, in Vietnam und Indonesien. 60 Prozent der rund zehn Millionen Kleidungsstücke kämen inzwischen aus eigenen Fabriken. Diese bekämen auch Aufträge von anderen Firmen, die Wert auf eine nachhaltige Lieferkette legten. „Denn für unsere Abnehmer steigen gerade die sozialen Standards vom reinen ,Hygienefaktor‘ zu einem der wichtigsten Entscheidungskriterien auf. Das liegt auch daran, dass sie wiederum von ihren Kunden unter Beobachtung stehen.“

Doch vollkommene Transparenz hat auch Seidensticker noch nicht erreicht: Während man bei Tier-1-Zulieferern, also der Textilproduktion, und bei Tier 2, also den Spinnereien und Webereien, alles kenne, kontrolliere und dokumentiere, seien „die vielen Landwirte, die unsere Baumwolle anbauen, für uns nicht mehr vollständig transparent. Da haben wir unsere Standards, aber keine genauen Kontrollen bis zum letzten Produzenten.“ Laut HRI-Analyse ist der Baumwollanbau in China besonders kritisch. 85 Prozent der chinesischen Baumwolle kämen aus der Region Xinjiang. Dort auf den Plantagen würden Hunderttausende Zwangsarbeiter der muslimischen Minderheit der Uiguren eingesetzt. Deshalb hätten die USA beispielsweise ein Importverbot gegen Produkte aus der Uiguren-Provinz verhängt – in der EU werde dies ebenfalls diskutiert.

Kosten für das Lieferkettengesetz geringer als befürchtet

Das Verfolgen, die Verfahren und die Dokumentation kosteten natürlich Geld und Zeit. Laut DZ-Bank-Umfrage fürchtet mehr als jeder zweite Mittelständler die Kosten der Nachhaltigkeit. Das HRI hat dagegen errechnet, dass die Kosten womöglich gar nicht so hoch sind wie befürchtet und mit der Zeit abnähmen. Die durchschnittliche Kostenquote, das heißt das Verhältnis der Kosten für ein nachhaltiges Lieferkettenmanagement zum Unternehmensumsatz, liege in Deutschland deutlich unter einem Prozent. Darüber hinaus mache der Trend zu mehr Nachhaltigkeit die Geschäftsmodelle zukunftsfähiger. Auch kleinere Unternehmen sollten das Thema deshalb als Trend sehen, bevor sie selbst als Zulieferer ausgemustert würden.

Um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, ist auch Seidensticker dafür, dass es bald ein europäisches Lieferkettengesetz gibt, da internationale Branchenriesen beim deutschen Gesetz nicht betroffen seien, wenn sie hierzulande weniger als 3000 oder ab 2024 1000 Mitarbeiter beschäftigten. „Wir dürfen uns in Deutschland als Einkaufsmarkt nicht überschätzen, vor allem im Vergleich zu den USA.“

Es gibt aber auch Länder, die bereits strengere Gesetze haben, dazu zählen zum Beispiel die Niederlande, wie die HRI-Analyse zeigt. Wer in das Nachbarland Waren liefere, müsse dokumentieren, dass in keiner Produktionsstufe Kinder arbeiten mussten.