Kein Kotau vor dem kulturellen Genozid
ZEIT ONLINE, 09.07.2019
Xifan Yang – Was kann die internationale Staatenwelt gegen die Unterdrückung der Uiguren in China tun? Regierungen müssen vor allem damit aufhören, auf Drohgebärden hereinzufallen.
Die Chinapolitik westlicher Staaten ist von zwei Emotionen getrieben, hat der frühere australische Premierminister Tony Abbott einmal zu Angela Merkel gesagt: Angst und Gier. Das stimmt – und trifft auf nicht westliche Länder genauso zu, kann man hinzufügen. An keinem Missstand zeigt sich das derzeit deutlicher als an der Unterdrückung der uigurischen Minderheit in der chinesischen Westprovinz Xinjiang.
Seit mehr als einem Jahr ist bekannt, dass die chinesische Regierung im hinteren Westen des Landes mehr als eine Million Muslime in Umerziehungslagern festhält – ohne Anklage, Gerichtsverfahren oder auch nur einen begründeten Verdacht. Folter und Missbrauch sind laut Aussagen von Ex-Gefangenen weitverbreitet. Wer nicht inhaftiert ist, kann sich kaum freier bewegen: Ganz Xinjiang ist inzwischen ein 1,6 Millionen Quadratkilometer großes Hochsicherheitsgefängnis.
Überwachungskameras, digitale Schnüffelprogramme und Nachbarschaftsspitzel verfolgen im Dienst eines vermeintlichen Antiterrorkampfs jeden auf Schritt und Tritt. Vergangene Woche enthüllte der deutsche Xinjiang-Forscher Adrian Zenz, dass der chinesische Staat außerdem systematisch uigurische Kinder von ihren Eltern trennt. Die Internate, in denen die Minderjährigen untergebracht sind, gleichen mit ihren Elektrozäunen und Alarmanlagen den Gefängnissen für die Erwachsenen. Dem Report von Zenz zufolge gibt es so etwas wie staatliche Kitas, in denen Säuglinge von inhaftierten Muslimen in Krippen versorgt werden – vermutlich müssen Kleinkinder, deren beide Eltern in Lagern sitzen, dort auch über Nacht bleiben.
In muslimischen Staaten ist das Schweigen besonders laut
Was sich in Xinjiang ereignet, ist ein kultureller Genozid: Schon die Wurzeln der Kleinsten sollen gekappt werden. Die Regierung will eine neue Generation heranzüchten, die sich von früh auf ganz der kommunistischen Staatsideologie unterordnet.
Trotz dieser Erkenntnisse bequemen sich nur wenige Regierungen dazu, die Menschenrechtsverletzungen der chinesischen Regierung in Xinjiang beim Namen zu nennen – oder gar Druck auszuüben. Offene Kritik kam zuletzt von der Trump-Regierung, die selbst unter Beschuss steht, weil sie Kinder an der mexikanischen Grenze von ihren Eltern trennt, aus dem EU-Parlament und aus der Bundesregierung. Das war’s dann aber mehr oder weniger schon.
Die türkische Regierung verdammte die Zwangsinternierung von Uiguren im Februar noch als „Schande für die Menschheit„, inzwischen leben laut Präsident Erdoğan in Xinjiang wieder ausschließlich „glückliche Muslime“. In muslimischen Staaten ist das Schweigen besonders laut: Einige Regierungen wie die indonesische fürchten die islamistischen Separatisten in ihren eigenen Ländern, anderen Staaten wie Pakistan oder Malaysia sind Seidenstraßeninvestitionen im Zweifel wichtiger als Solidarität mit muslimischen Glaubensbrüdern.
All dies verstärkt bei den Machthabern in Peking den Eindruck, dass sie mit der beispiellosen Verfolgung von Millionen Muslimen ungeschoren davonkommen können. Die internationale Staatenwelt bleibt untätig, weil viele Regierungen offenbar dem Irrglauben aufsitzen, dass die chinesische Führung einem Riesenbaby gleicht, vor dessen Zorn man sich in vorauseilendem Gehorsam in den Staub werfen muss – weil andernfalls Milliardenverträge in Gefahr sind.
Eiskalt berechnende Technokraten
Ja, Peking droht Ländern, die eine vermeintliche „Einmischung in innere Angelegenheiten“ wagen, immer wieder mit ökonomischer Vergeltung. Tatsächlich aber sitzen in der chinesischen Regierung und in der herrschenden Kommunistischen Partei (KP) keine leicht kränkbaren Hitzköpfe, sondern vielmehr eiskalt berechnende Technokraten. Es ist nicht erwiesen, dass Länder, die deutliche Kritik an China üben, wirtschaftliche Nachteile fürchten müssen. Dass die meisten Staaten jede Drohung aus Peking für bare Münze nehmen, zeigt nur, wie gut die Riesenbabymasche funktioniert.
Im Gegenteil: Mitten im Handelskrieg mit den USA ist Peking auf Kooperation angewiesen. Wer darüber hinaus kontinuierlich und glaubwürdig für Werte einsteht, ohne sich bloß in wohlfeilen Lippenbekenntnissen zu üben, wird von den Chinesen als Gegenüber eher ernst genommen. Deutschland ist dafür ein Beispiel.
„Hilfreich wären jetzt multilaterale Statements“
Durch den Einsatz sogenannter stiller Diplomatie ist es der Bundesregierung in den vergangenen Jahren etwa gelungen, die Ausreise des Künstlers Ai Weiwei oder die Freilassung von Liu Xia, Witwe des verstorbenen Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo, zu ermöglichen. Diese stille Diplomatie einzelner Länder gelangt allerdings an ihre Grenzen, wenn es um die Unterdrückung von Millionen Menschen wie in Xinjiang geht. Auch die Bundesregierung muss, gemeinsam mit der EU und anderen Ländern, noch klarer Position beziehen.
Dass die chinesische Führung nicht unempfänglich ist für Druck von außen, beweist ihre plumpe Propagandaoffensive der vergangenen Monate: Vor einem Jahr leugnete sie die Existenz der Umerziehungslager gänzlich. Mittlerweile versucht sie, die Lager als harmlose „Berufsbildungszentren“ darzustellen. Die Situation der Uiguren hat sich indes nicht gebessert.
„Hilfreich wären jetzt multilaterale Statements oder Sanktionen gegen verantwortliche chinesische Spitzenkader“, sagt der Xinjiang-Forscher Adrian Zenz ZEIT ONLINE. Ausgerechnet in den Vereinten Nationen aber, einer Organisation, die nach dem Zweiten Weltkrieg dazu begründet wurde, Menschenrechtsverletzungen großen Ausmaßes nie wieder zuzulassen, passiert bislang so gut wie nichts.