Genozid in China: Millionen Uiguren und andere Minderheiten interniert und gefoltert

Genozid in China: Millionen Uiguren und andere Minderheiten interniert und gefoltert

Frankfurter Rundschau, 23.10.2021

Unten ein Artikel aus der Frankfurter Rundschau, Foto Reiner Zensen/Imago.

In chinesischen „Umerziehungslagern“ werden Hunderttausende Menschen gefoltert, vergewaltigt, erniedrigt und getötet. Eine Geflohene erzählt ihre Geschichte.

Sayragul Sauytbay ist Muslimin kasachischer Abstammung. Das alleine reichte den chinesischen Behörden aus, um die Lehrerin in ein Internierungslager zu sperren. Um ihr einen schwarzen Sack über den Kopf zu ziehen und praktisch aus dem Schlafzimmer in ein sogenanntes Umerziehungszentrum zu verfrachten. In ein Lager, in dem Zwangssterilisation, Folter und Menschenversuche an der Tagesordnung sind. Wie Sayragul Sauytbay soll es nach verschiedenen Angaben zwischen rund 1,5 und drei Millionen Menschen in China ergangen sein, die meisten von ihnen Uiguren.

Die Uiguren sind eine turksprachige Ethnie, die meisten von ihnen leben im Gebiet des ehemaligen Turkestans. Vor allem in der heute chinesischen Region Xinjiang, in der die Autonomie der uigurischen Minderheit offiziell geduldet ist. Die meisten der nach Schätzungen rund 15 Millionen Uiguren leben heute im Tarim-Becken, das im Süden Xinjiangs liegt. Seit 1949 schraubten die Machthaber in China den Prozentsatz der sogenannten Han-Chinesen in Xinjiang mit einer aggressiven Siedlungspolitik von 5 Prozent auf 40 Prozent und gingen 2017 dazu über, mit weiteren Repressalien gegen die fast ausschließlich muslimische Minderheit im eigenen Land vorzugehen.

Das musste auch Sayragul Sauytbay erleben, die sich nach einigem Zögern dazu bereiterklärte, der israelischen Tageszeitung Haaretz von dem Leid zu erzählen, das sie selbst im Lager erfahren musste. In welchem Lager sie genau war, hat sie nie erfahren. Genauso wenig, warum sie es nach rund einem Jahr wieder verlassen durfte. Und auch nicht, welches Verbrechen genau sie begangen haben soll, um nur kurze Zeit darauf erneut interniert werden zu sollen. Sayragul Sauytbay entschied sich für die Flucht.

China nimmt allen Uiguren den Pass ab

Doch von vorn. Als junge Frau absolvierte Sauytbay ein Medizinstudium und arbeitete in einem Krankenhaus. Anschließend wandte sie sich jedoch dem Bildungswesen zu und wurde im Staatsdienst angestellt, insgesamt leitete sie fünf Vorschulen. Obwohl ihre berufliche Situation den Schein eines sicheren Lebens erweckte, planten sie und ihr Mann jahrelang, China mit ihren beiden Kindern zu verlassen und ins benachbarte Kasachstan zu ziehen. Allerdings kam es immer wieder zu Verzögerungen, 2014 begannen die chinesischen Behörden dann damit, Pässe von Beamtinnen und Beamten einzuziehen.

Unter diesen Pässen war auch der Pass von Sayragul Sauytbay. Ihr Mann und ihre Kinder flohen zwei Jahre später, kurz darauf ging China dazu über, die Pässe der gesamten Minderheit zu beschlagnahmen. Sauytbay setzte ihre Hoffnungen auf ein Ausreisevisum, mit dem sie zu ihrer Familie nach Kasachstan stoßen wollte. Sie hoffte vergebens, ein Visum erhielt sie nie.

„Ende 2016 begann die Polizei, nachts heimlich Menschen zu verhaften“, erzählte Sauytbay der israelischen Haaretz. „Es war eine sozial und politisch unsichere Zeit. Kameras wurden in jedem öffentlichen Raum installiert; die Sicherheitskräfte verstärkten ihre Präsenz. Einmal wurden von allen Angehörigen von Minderheiten in der Region DNA-Proben genommen und unsere Telefon-SIM-Karten beschlagnahmt. Eines Tages wurden wir zu einem Treffen hochrangiger Beamter eingeladen. Es waren vielleicht 180 Leute da, Angestellte in Krankenhäusern und Schulen. Polizisten, die aus einem Dokument lasen, kündigten an, dass bald Umerziehungszentren für die Bevölkerung eröffnet werden, um die Situation in der Region zu stabilisieren.“

Die Uiguren und andere Minderheiten werden in „Umerziehungslager“ gebracht

Bei diesen Lagern handelt es sich laut Sauytbay um grausame Orte. Ihre Beschreibung: Jeweils zwanzig Gefangene leben dort in einem winzigen Raum. Sie werden mit Handschellen gefesselt, ihre Köpfe rasiert, jede Bewegung wird von Deckenkameras überwacht. Ein Eimer in der Ecke des Zimmers dient als gemeinsame Toilette. Der Tage beginnt um 6 Uhr morgens. Die Inhaftierten werden gezwungen, Chinesisch zu lernen. Sie lernen Propagandalieder auswendig und beichten erfundene Sünden. Ihr Alter reicht vom Teenager bis zum Senior. Ihre Mahlzeiten sind mager: trübe Suppe und eine Scheibe Brot.

Und Sauytbay berichtet von Folter. Metallnägel, herausgerissene Fingernägel, Elektroschocks – all das findet laut ihrer Schilderung im „Schwarzen Raum“ statt. Bestrafung ist Alltag. Die Gefangenen werden gezwungen, Tabletten zu nehmen und bekommen Spritzen. Ihnen wird erzählt, dass diese Behandlung der Krankheitsprävention diene. In Wirklichkeit handelt es sich um medizinische Experimente. Um Menschenversuche. Viele der Insassen leiden unter kognitivem Verfall. Einige der Männer werden sterilisiert. Frauen werden regelmäßig vergewaltigt.

Die USA hat diese Umstände mit der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch Joe Biden bestätigt und deutlich kritisiert. Im alljährlich neu aufgelegten Menschenrechtsbericht des Außenministeriums unter Minister Antony Blinken heißt es: „Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ereigneten sich im Laufe des Jahres an den überwiegend muslimischen Uiguren und anderen ethnischen und religiösen Minderheitengruppen in Xinjiang.“

Die USA bestätigen in ihrem Menschenrechtsbericht unmenschliche Zustände in den Lagern

Weiter heißt es in dem Bericht, dass der Völkermord an Minderheitengruppen in Xinjiang andauert und „die willkürliche Inhaftierung oder anderer schwerer Entzug der körperlichen Freiheit von mehr als einer Million Zivilisten umfasst; Zwangssterilisation, erzwungene Abtreibungen und restriktivere Anwendung der chinesischen Geburtenkontrollpolitik; vergewaltigen; Folter einer großen Zahl willkürlich Inhaftierter; Zwangsarbeit; und die Auferlegung drakonischer Einschränkungen der Religions- oder Weltanschauungsfreiheit, der Meinungsfreiheit und der Bewegungsfreiheit.“

Nur wenigen Inhaftierten ist es bis heute gelungen, aus den Lagern herauszukommen und ihre Geschichte zu erzählen. Sayragul Sauytbay hat es geschafft. Und sie erzählt. Somit ist sie einer der wenigen Menschen, die glaubwürdig aus erster Hand darüber berichten können, was in den Camps wirklich vor sich geht. Haaretz-Journalist David Stavrou hat in Stockholm mit ihr gesprochen. Er berichtet, dass sie die meiste Zeit gefasst blieb, als sie vom Leid im Lager erzählte. An einigen Stellen aber, „auf dem Höhepunkt ihrer Erzählung des Grauens“, erklärt Stavrou, seien ihr Tränen in die Augen getreten.

Region

Xinjiang

Rechtsform

Autonomes Gebiet im Nordwesten Chinas

Fläche

1.665.000 km²

Hauptstadt

Ürümqi

Sie ist 43, eine Muslimin kasachischer Abstammung und im Kreis Mongolküre (oder auch Zhaosu) nahe der chinesisch-kasachischen Grenze aufgewachsen. Ihre Schilderung klingt düster: „Im Januar 2017 fingen sie an, Leute mit Verwandten im Ausland aufzunehmen. Sie kamen nachts zu mir nach Hause, legten mir einen schwarzen Sack auf den Kopf und brachten mich an einen Ort, der wie ein Gefängnis aussah. Ich wurde von Polizisten verhört, die wissen wollten, wo mein Mann und meine Kinder seien und warum sie nach Kasachstan gegangen seien.“ Am Ende des Verhörs sei ihr befohlen worden, ihrem Mann auszurichten, er solle nach Hause kommen. Ihr selbst sei es verboten worden, über das Verhör zu sprechen.

Sayragul Sauytbay schildert ihren grausamen Lageraufenthalt

Sauytbay hatte aber gehört, dass in ähnlichen Fällen Menschen, die der Aufforderung, nach China zurückzukehren, nachgekommen waren, sofort festgenommen und in ein Lager gebracht wurden. Vor diesem Hintergrund brach sie nach ihrer Entlassung den Kontakt zu ihrem Mann und ihren Kindern sofort ab. Die Zeit verging, ihre Familie kehrte nicht zurück. Doch die Behörden ließen nicht nach. Sie wurde wiederholt zu nächtlichen Verhören mitgenommen und verschiedener Vergehen angeklagt, die sie nach eigener Aussage nie begangen hatte. Die frei erfunden worden seien.

„Ich musste stark sein“, erzählte sie Stavrou in Stockholm. „Jeden Tag, wenn ich aufwachte, dankte ich Gott, dass ich noch am Leben war.“ Die Lage verschärfte sich Ende 2017: „Im November 2017 wurde mir befohlen, mich an einer Adresse in einem Vorort der Stadt zu melden, eine Nachricht unter einer mir angegebenen Telefonnummer zu hinterlassen und auf die Polizei zu warten.“ Nachdem Sauytbay am vorgesehenen Ort angekommen war und die Nachricht hinterlassen hatte, trafen ihrer Schilderung zufolge vier bewaffnete Männer in Uniform ein, bedeckten erneut ihren Kopf und packten sie in ein Fahrzeug. 

Nach einer Stunde Fahrt kam Sauytbay an einem unbekannten Ort an. Bald erfuhr sie, dass es sich um ein „Umerziehungslager“ handelt. Und um ein Lager, das in den folgenden Monaten zu ihrem Gefängnis werden sollte. Man sagte ihr, so erzählt sie, sie sei dorthin gebracht worden, um Chinesisch zu unterrichten. Sofort habe sie ein Dokument unterschreiben müssen. Es handelte sich dabei um eine Auflistung ihrer Pflichten und der Lagerregeln.

Im Lager wurde Sayragul Sauytbay gezwungen, die Inhaftierten zu unterrichten

„Ich hatte große Angst, zu unterschreiben“, erinnert sich Sauytbay. „Da stand, dass ich die Todesstrafe bekommen würde, wenn ich meine Aufgabe nicht erfülle oder mich nicht an die Regeln hielt. Das Dokument besagte, dass es verboten sei, mit den Gefangenen zu sprechen, zu lachen, zu weinen und Fragen von irgendjemandem zu beantworten. Ich unterschrieb, weil ich keine Wahl hatte, und dann bekam ich eine Uniform und wurde in ein winziges Schlafzimmer mit einem Betonbett und einer dünnen Plastikmatratze gebracht. An der Decke waren fünf Kameras – eine in jeder Ecke und eine in der Mitte.“

Andere Inhaftierte, die nicht mit Lehraufgaben betreut wurden, hatten es mit strengeren Bedingungen zu tun, berichtet Sauytbay . „Es waren fast 20 Leute in einem 16 Quadratmeter großen Raum. Auch in ihren Zimmern gab es Kameras. Jedes Zimmer hatte einen Plastikeimer als Toilette. Jeder Gefangene hatte täglich zwei Minuten Zeit, um die Toilette zu benutzen, und der Eimer wurde nur einmal am Tag geleert. Wenn es voll war, musste man bis zum nächsten Tag warten. Die Gefangenen trugen Uniformen und ihre Köpfe waren rasiert. Ihre Hände und Füße waren den ganzen Tag gefesselt, außer wenn sie schreiben mussten. Sogar im Schlaf wurden sie gefesselt und mussten auf der rechten Seite schlafen – wer sich umdrehte, wurde bestraft.“

Sauytbay musste, berichtet sie, den Gefangenen – die Uiguren oder Kasachisch sprachen – chinesische und kommunistische Propagandalieder beibringen. Sie war den ganzen Tag bei ihnen. Der Tagesablauf begann um 6 Uhr. Nach einem kümmerlichen Frühstück fand der Chinesischunterricht statt, gefolgt vom Auswendiglernen vorgesagter Sätze. Es gab bestimmte Stunden, um Propagandalieder zu lernen und Slogans von Plakaten zu rezitieren: „Ich liebe China“, „Danke an die Kommunistische Partei“, „Ich bin Chinese“ und „Ich liebe Xi Jinping“ – Chinas Präsidenten.

Inhaftierte in den Lagern müssen Sünden beichten oder werden bestraft

Die Nachmittags- und Abendstunden, so Sauytbay, waren Geständnissen von Verbrechen und Sittenverstößen gewidmet. „Zwischen 16 und 18 Uhr mussten die Schüler über ihre Sünden nachdenken. Fast alles kann als Sünde angesehen werden, von der Beachtung religiöser Praktiken und der Unkenntnis der chinesischen Sprache oder Kultur bis hin zu unmoralischem Verhalten. Häftlinge, die sich nicht an Sünden erinnerten, die schwer genug waren oder sich solche nicht wenigstens ausdachten, wurden bestraft.“

Nach dem Abendessen sei es mit der Thematisierung dieser Sünden weitergegangen, erinnert sich Sauytbay. „Wenn die Schüler mit dem Essen fertig waren, mussten sie mit erhobenen Händen vor der Wand stehen und noch einmal über ihre Verbrechen nachdenken. Um 10 Uhr hatten sie zwei Stunden Zeit, ihre Sünden aufzuschreiben und die Seiten an die Verantwortlichen abzugeben. Der Tagesablauf dauerte tatsächlich bis Mitternacht, und manchmal wurde den Gefangenen nachts Wachdienst zugeteilt. Die anderen konnten von Mitternacht bis sechs schlafen.“

Sauytbay schätzt, dass sich im Lager etwa 2.500 Inhaftierte befanden. Die älteste Person, die sie traf, sei eine 84-jährige Frau gewesen; der Jüngste ein Junge von 13 Jahren. „Es gab dort Schulkinder und Arbeiter, Geschäftsleute und Schriftsteller, Krankenschwestern und Ärzte, Künstler und einfache Bauern, die noch nie in der Stadt gewesen waren.“ Die Umstände seien menschenfeindlich gewesen: „Die Zimmer waren kalt. Kontakte zu anderen zu haben war verboten. In den Wohnräumen waren Männer und Frauen getrennt, aber tagsüber lernten sie gemeinsam. Jedenfalls gab es überall Polizisten, die alles überwachten.“

Im Folterraum kommt es zu menschenverachtenden Szenen

Was es zu essen gegeben habe, fragte Stavrou Sauytbay. Ihre Antwort: „Es gab drei Mahlzeiten am Tag. Alle Mahlzeiten beinhalteten wässrige Reissuppe oder Gemüsesuppe und eine kleine Scheibe chinesisches Brot. Freitags wurde Fleisch serviert, aber es war Schweinefleisch. Die Häftlinge wurden gezwungen, es zu essen, auch wenn sie religiös pflichtbewusst waren und kein Schweinefleisch aßen. Weigerung brachte Strafe. Das Essen war schlecht, es gab zu wenig Schlaf und die Hygiene war grauenhaft. Das Ergebnis war, dass sich die Häftlinge in Körper ohne Seele verwandelten.“

Die Lagerkommandanten haben einen Folterraum eingerichtet, erzählt Sauytbay, den die Häftlinge „Schwarzen Raum“ nannten, weil es verboten war, explizit darüber zu sprechen. „Da gab es alle Arten von Folterungen. Einige Gefangene wurden an die Wand gehängt und mit elektrischen Knüppeln geschlagen. Es gab Gefangene, die auf einem Stuhl aus Nägeln sitzen mussten. Ich sah, wie Leute blutüberströmt aus diesem Raum zurückkehrten. Einige kamen ohne Fingernägel zurück.“ Anlass für eine solche Folter seien Belanglosigkeiten gewesen: „Die Insassen wurden für alles bestraft. Wer sich nicht an die Regeln hielt, wurde bestraft. Wer nicht richtig Chinesisch lernte oder die Lieder nicht sang, wurde ebenfalls bestraft.“

Sayragul Sauytbay erinnert sich an eine solche Geschichte: „Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Im Lager war eine alte Frau, die vor ihrer Verhaftung Hirtin gewesen war. Sie wurde ins Lager gebracht, weil ihr vorgeworfen wurde, mit jemandem aus dem Ausland telefoniert zu haben. Aber sie war eine Frau, die nicht nur kein Telefon hatte, sondern nicht einmal wusste, wie man es benutzt. Auf der Seite der Sünden, die die Häftlinge ausfüllen mussten, schrieb sie, dass der Anruf, der ihr vorgeworfen wurde, nie stattgefunden habe. Als Reaktion darauf wurde sie sofort bestraft. Ich habe sie gesehen, als sie zurückkam. Sie war blutüberströmt, sie hatte keine Fingernägel mehr und ihre Haut war geschunden.“

China führt in „Umerziehungslagern“ Menschenversuche durch

Einmal wurde Sauytbay selbst bestraft. „Eines Nachts wurden etwa 70 neue Häftlinge ins Lager gebracht“, erinnert sie sich. „Eine von ihnen war eine ältere Kasachin, der während ihrer Verhaftung nicht einmal die Zeit gegeben wurde, ihre Schuhe anzuziehen. Sie erkannte, dass ich selbst Kasachin bin und bat um meine Hilfe. Sie flehte mich an, sie da rauszuholen und umarmte mich. Ich erwiderte ihre Umarmung nicht, wurde aber trotzdem bestraft. Ich wurde geschlagen und zwei Tage lang wurde mir das Essen vorenthalten.“

Und dann sei da noch die Sache mit den Menschenversuchen gewesen. „Die Pillen hatten unterschiedliche Wirkungen. Einige Gefangene waren anschließend kognitiv geschwächt. Frauen bekamen ihre Periode nicht mehr und Männer wurden unfruchtbar, heißt es.“ Andererseits hätten jene Inhaftierte, die wirklich krank waren, nicht die medizinische Versorgung erhalten, die sie brauchten. Sauytbay erinnert sich an eine junge Frau, eine Diabetikerin, die vor ihrer Verhaftung Krankenschwester war. „Ihr Diabetes wurde immer akuter. Sie war nicht mehr stark genug, um zu stehen. Sie konnte nicht einmal essen. Diese Frau bekam weder Hilfe noch Behandlung. Es gab eine andere Frau, die sich vor ihrer Festnahme einer Gehirnoperation unterzogen hatte. Obwohl sie ein Rezept für Tabletten hatte, durfte sie diese nicht einnehmen.“

Das Schicksal der Frauen im Lager sei besonders hart, stellt Sauytbay fest: „Die Polizisten nahmen die hübschen Mädchen jeden Tag mit, und sie kamen die ganze Nacht nicht in die Räume zurück. Die Polizei hatte unbegrenzte Macht. Sie konnten sich nehmen, wen sie wollten. Es gab auch Fälle von Gruppenvergewaltigungen. In einer der Klassen, die ich unterrichtete, kam eines dieser Opfer eine halbe Stunde nach Unterrichtsbeginn. Die Polizei befahl ihr, sich hinzusetzen, aber sie konnte es einfach nicht, also brachten sie sie zur Bestrafung in den schwarzen Raum.“

Im Lager kommt es zur Massenvergewaltigung vor den Augen Hunderter Inhaftierter

Tränen liefen über Sauytbays Gesicht, so erzählt es Journalist Stavrou, als sie die düsterste Geschichte aus ihrer Zeit im Lager erzählte. „Eines Tages teilte uns die Polizei mit, dass sie prüfen würde, ob unsere Umerziehung gelingt, ob wir uns richtig entwickeln. Sie brachten 200 Häftlinge nach draußen, Männer und Frauen, und forderten eine der Frauen auf, ihre Sünden zu bekennen. Sie stand vor uns und erklärte, sie sei ein schlechter Mensch gewesen, aber jetzt, da sie Chinesisch gelernt habe, sei sie ein besserer Mensch geworden.“

Doch dann: „Als sie mit dem Sprechen fertig war, befahlen ihr die Polizisten, sich auszuziehen und vergewaltigten sie einfach nacheinander, vor allen anderen. Während sie sie vergewaltigten, überprüften sie, wie wir reagierten. Menschen, die den Kopf drehten oder die Augen schlossen, und diejenigen, die wütend oder schockiert aussahen, wurden weggebracht und wir sahen sie nie wieder. Es war furchtbar. Ich werde das Gefühl der Hilflosigkeit nie vergessen, ihr nicht helfen zu können. Danach fiel es mir schwer, nachts zu schlafen.“

Zeugenaussagen von anderen Inhaftierten in chinesischen Lagern ähneln Sauytbays Bericht. Die Entführung mit einem schwarzen Sack über dem Kopf, das Leben in Fesseln und Medikamente, die kognitiven Verfall und Sterilität verursachen. Sauytbays Berichte über sexuelle Übergriffe wurden durch Berichte anderer ehemaliger Inhaftierter untermauert, die von der Washington Post und dem Independent veröffentlicht wurden. Viele Frauen gaben an, vergewaltigt worden zu sein, andere erzählten von erzwungenen Abtreibungen und der erzwungenen Verabreichung von Verhütungsmitteln.

Sayragul Sauytbays wird entlassen und soll umgehend zurück ins Lager – als Gefangene

Ruqiye Perhat etwa, eine 30-jährige Uigurin, die vier Jahre lang in Lagern festgehalten wurde und jetzt in der Türkei lebt, berichtete von mehrfachen Vergewaltigungen durch Wärter. Zweimal sei sie daraufhin schwanger geworden, zweimal seien die Schwangerschaften gewaltsam abgebrochen worden. „Jede Frau oder jeder Mann unter 35 Jahren wurde vergewaltigt und sexuell missbraucht“, schilderte sie der Washington Post.

Sayragul Sauytbays Geschichte nahm im März 2018 eine überraschende Wendung. Ohne vorherige Ankündigung wurde sie über ihre Freilassung informiert. Wieder wurde ihr ein schwarzer Sack über den Kopf gestülpt, wieder wurde sie in ein Fahrzeug gepfercht. Aber dieses Mal wurde sie nach Hause gebracht. Zunächst sei der Auftrag klar gewesen, erzählt sie: Sie sollte ihre frühere Position als Direktorin von fünf Vorschulen in ihrer Heimatregion Aksu wieder aufnehmen, und sie wurde angewiesen, kein Wort über das Erlebte zu verlieren. 

Nur drei Arbeitstage aber habe es gedauert, bis sie entlassen und erneut zum Verhör gebracht wurde. Nun wurde sie des Landesverrats und der Kontaktpflege mit Menschen im Ausland beschuldigt. Die Strafe für Leute wie sie, hieß es, sei Umerziehung. Nur würde sie dieses Mal eine reguläre Insassin in einem Lager sein und dort ein bis drei Jahre bleiben müssen.

Sayragul Sauytbay gelingt die Flucht aus China

Sauytbay weiter: „Mir wurde gesagt, dass ich, bevor ich ins Lager geschickt werde, nach Hause zurückkehren soll, um meinen Nachfolger einzuweisen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Kinder zweieinhalb Jahre nicht gesehen und vermisste sie sehr. Da ich bereits in einem Lager war, wusste ich, was das Leben dort bedeutete. Ich wusste, dass ich dort sterben würde, und das konnte ich nicht akzeptieren. Ich bin unschuldig. Ich habe nichts Schlimmes getan. Ich habe 20 Jahre für den Staat gearbeitet. Warum sollte ich bestraft werden? Warum sollte ich dort sterben?“

Sie entschied sich für eine Flucht: „Ich sagte mir, wenn ich bereits zum Tode verurteilt war, würde ich zumindest versuchen zu fliehen. Es hat sich gelohnt, das Risiko einzugehen, weil ich meine Kinder sehen konnte. Vor meiner Wohnung war Polizei stationiert, und ich hatte keinen Pass, aber trotzdem versuchte ich es. Ich stieg durch ein Fenster aus und floh zum Nachbarhaus. Von dort nahm ich ein Taxi zur Grenze zu Kasachstan und schaffte es, mich hinüberzuschleichen. In Kasachstan habe ich meine Familie gefunden. Mein Traum wurde wahr. Ich hätte kein größeres Geschenk bekommen können.“

In Kasachstan wird Sayragul Sauytbay erneut inhaftiert

Doch damit endete ihre Leidensgeschichte noch nicht. Unmittelbar nach ihrem emotionalen Wiedersehen mit ihrer Familie wurde sie vom kasachischen Geheimdienst festgenommen und wegen illegalen Grenzübertritts für neun Monate inhaftiert. Dreimal stellte sie einen Asylantrag, dreimal wurde er abgelehnt. Sie sah sich der Gefahr einer Auslieferung an China ausgesetzt. Aber nachdem Verwandte mehrere Medien kontaktiert hatten, wurde ihr schließlich in Schweden Asyl gewährt.

„Ich werde das Lager nie vergessen“, lautet Sauytbays Bilanz. „Ich kann die Augen der Gefangenen nicht vergessen, die erwarten, dass ich etwas für sie tue. Sie sind unschuldig. Ich muss ihre Geschichte erzählen, von der Dunkelheit, in der sie sich befinden, von ihrem Leiden. Die Welt muss eine Lösung finden, damit mein Volk in Frieden leben kann. Die demokratischen Regierungen müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, damit China aufhört, das zu tun, was es in Xinjiang tut.“ China schildert die Lage anders. Laut offiziellen Angaben führen die Uiguren ein „glückliches Leben“. (Mirko Schmid)