Das Rätsel von Weimar

Das Rätsel von Weimar

Sueddeutsche, 20.11.2017

China fordert, dass die Stadt den Menschenrechtspreis für Ilham Tohti zurücknimmt. Macht sie natürlich nicht. Aber seitdem geschehen wunderliche Dinge.

Als ein chinesisches Gericht vor drei Jahren den Universitätsprofessor Ilham Tohti zu lebenslanger Haft verurteilte, da sagte sein Freund, der Pekinger Bürgerrechtler Hu Jia, zur SZ, er wisse nicht, „ob die KP nun dumm ist oder vorsätzlich unbarmherzig“. Dass die Partei in Peking kein Herz für Andersdenkende hat, war bekannt, aber ein so drakonisches Urteil ausgerechnet gegen Tohti, das schockierte damals viele, egal ob Menschenrechtler oder Diplomaten. Viele kannten Tohti persönlich, der Akademiker hatte sich als Brückenbauer verstanden zwischen den Han-Chinesen und seinem eigenen Volk, den im Westen Chinas lebenden Uiguren. Und er war ihnen und ihren Nöten eine Stimme gewesen, die einzige, die sie noch hatten am Ende. „Sie wollen, dass die Welt ihn vergisst“, sagte Hu Jia.

An diesem Ziel gemessen ist das Resultat aus Pekinger Sicht bislang ein zweischneidiges. Ja, Ilham Tohti sitzt in Einzelhaft, er gibt also keine Interviews mehr, in denen er auf die zunehmende Repression in seiner Heimatprovinz Xinjiang hinweisen könnte. Er kann sie nicht mehr nerven, mit seiner Kritik und seinem Beharren auf einem Dialog zwischen Chinesen und den vorwiegend muslimischen Uiguren, in dem vielleicht auch einmal die Uiguren zu Wort kommen dürfen. Aber anders als im eigenen Land, wo die Partei das mit dem von oben angeordneten kollektiven Gedächtnisverlust immer wieder mal erfolgreich durchexerziert, will das draußen in der Welt nicht so recht klappen. Im letzten Jahr zum Beispiel hat Tohti den Genfer Martin-Ennals-Preis gewonnen, gemeinsam verliehen von den zehn wichtigsten Menschenrechtsorganisationen weltweit.

Erst war alles auf der Internetseite verschwunden. Und kurze Zeit später war die ganze Seite weg

In diesem Jahr nun ist es Weimar, die kleine Stadt mit großer Geschichte, die entschieden hat, ins chinesische Schweigen hinein einen lauten Ruf zu schicken: Ende Juni entschied der Stadtrat, der Weimarer Menschenrechtspreis solle in diesem Jahr an den „unbequemen Mahner“ Ilham Tohti gehen. Tohti nämlich, so heißt es in der Begründung, habe über Jahrzehnte unermüdlich und friedlich versucht, auf „die gravierenden Missstände“ hinzuweisen, denen die Uiguren in Xinjiang ausgesetzt sind. Was seither geschah, hat sie dann doch verblüfft, die Weimarer. Sascha Oehme, der für die Stadt den Preis betreut, erzählt, wie die Protokollabteilung von Weimar kurz nach dem Stadtratsentscheid ein Anruf aus der chinesischen Botschaft in Berlin erreichte. Eine Mitarbeiterin der Botschaft brachte ihr höchstes Missfallen zum Ausdruck: Man solle gefälligst den Preis wieder zurückziehen. Als Oehme ein paar Wochen später aus dem Sommerurlaub wiederkam und die Webseite des Preises aufrief (Menschenrechtspreis.de), da erlebte er eine Überraschung: „Es war alles gelöscht, was wir die letzten drei Jahre auf die Seite gestellt hatten.“ Wie von Zauberhand verschwunden auch der aktuelle Preisträger: Ilham Tohti. Der von der Stadt beauftragte Betreiber der Seite, eine private Medienagentur, konnte sich die Löschungen nicht erklären. Und vor etwas mehr als zwei Wochen kam es noch besser: Da verschwand die ganze Seite. Alle Anfragen und Klicks führen seither ins digitale Nirwana. „So etwas haben wir noch nie erlebt“, sagt Oehme. „Wir mutmaßen, dass die Seite gehackt wurde.“ Bewiesen sei nichts, schrieb die Thüringer Allgemeine am letzten Wochenende, aber im Rathaus spekuliere man nun über „einen gezielten Angriff aus China“.

In Weimar sind sie stolz auf ihren Menschenrechtspreis. „Es ist der wohl wichtigste Preis Weimars“, sagt Ralf Finke, der Pressesprecher der Stadt. Die Vergabe an Ilham Tohti kommt zu einer Zeit, da die Repression in dessen Heimatprovinz Xinjiang teils groteske Züge annimmt. Im Sommer vergangenen Jahres trat ein neuer Parteichef sein Amt an, Chen Quanguo, der zuvor schon in Tibet mit harter Hand geherrscht hatte. Allein im Jahr nach seinem Amtsantritt schuf Chen laut einer Studie des Stuttgarter Xinjiang-Forschers Adrian Zenz mehr als 80 000 neue Stellen im Sicherheitsapparat der Provinz – um die Hälfte mehr als in den vorausgegangenen zehn Jahren zusammen.

Ilham Tohti hat früh davor gewarnt, dass die Repressionen zu Gewalt führen würden

In Xinjiangs Städten reiht sich mittlerweile Polizeiwache an Polizeiwache: alle 500 Meter eine. Tausende Uiguren und Angehörige anderer muslimischer Minderheiten, darunter Kinder, wurden einem Bericht von Human Rights Watch zufolge seit dem Frühjahr in Anstalten eingeliefert, die in der Staatspresse als „Antiextremismus-Trainingszentren“ oder „Umerziehungslager“ bezeichnet werden. Dort sollen sie der Religiosität abschwören, und es wird ihnen die Loyalität zur Partei eingebläut. Anfang des Jahres war der Parteichef eines Dorfes bei Hotan degradiert worden, weil er der Staatspresse zufolge „sich nicht traute, in der Gegenwart religiöser Personen zu rauchen“. Er habe so dem Extremismus Vorschub geleistet, erklärte die Pekinger Global Times. Durch seinen Verzicht auf die Zigarette habe der Parteichef „versagt im Angesicht der Bedrohung durch extremistische lokale Kräfte“.

Ilham Tohti hat früh prophezeit, dass Repression, Beschneidung religiöser Freiheiten und Marginalisierung der vorwiegend muslimischen Uiguren in ihrer Heimatprovinz Xinjiang zu Radikalisierung und Gewalt führen würden. Verurteilt wurde er 2014 wegen „Separatismus“, ein Vorwurf, der bis heute nicht bewiesen ist. Bezeichnend dagegen dieser Teil der Urteilsbegründung von damals: „Tohti arbeitete mit ausländischen Gruppen und Individuen zusammen, um Themen und innere Angelegenheiten aus Xinjiang auf die internationale Bühne zu bringen.“ Öffentlichkeit für die Sache der Uiguren, das war sein Verbrechen, die ist Peking ein Gräuel.

Ob sich China mit dem Versuch, Druck auszuüben, einen Gefallen getan hat? In Weimar zeigen sie sich unbeeindruckt. „Nun heißt es: die Thematik wachhalten!“, sagt Oehme. „Wahrscheinlich müssen wir jetzt erst recht den Finger in die Wunde legen.“ Am 10. Dezember ist die Preisverleihung. Ilham Tohti wird den Tag verbringen wie die tausend zuvor: in seiner Zelle im Gefängnis Nummer 1 in Urumqi.