Chinas Digital-Leninismus
ZEIT ONLINE, 20.11.2019
Matthias Naß – Chinas Überwachungsstaat fordert die freiheitliche Lebensordnung heraus. Es geht nicht allein um Hongkong.
Es tut weh, mitansehen zu müssen, wie Hongkong von Tag zu Tag tiefer in Gewalt versinkt. Wie viel Idealismus, wie viele Hoffnungen werden da gerade in Trümmer gelegt. Es sind ja sehr junge Menschen, manche fast noch Kinder, die ihr Recht auf ein freies Leben in Demokratie einfordern. Leider oft mit brutalen und illegitimen Mitteln: Molotowcocktails, Ziegelsteine, Pfeil und Bogen machen jedes Argument zunichte.
Woher kommt die Wut, die sich da entlädt? Ist es die Reaktion auf die Brutalität der Polizei? Das Wissen um die eigene Hilflosigkeit? Oder einfach die Verzweiflung darüber, dass in Hongkong die Uhr tickt, dass es 2047 vorbei sein wird mit dem „hohen Maß an Autonomie“, das der Stadt am Ende der britischen Kolonialherrschaft von Chinas Regierung versprochen wurde?
Für einen heute 17-Jährigen ist es keine schöne Aussicht, zu wissen, dass er mit 45 Jahren nicht mehr in einer offenen Gesellschaft leben wird. Dass er und seine Familie spätestens dann Bürger einer Volksrepublik sein werden, in der die Dystopie einer lückenlosen Überwachung und eines perfektionierten Unterdrückungsapparats bereits jetzt Wirklichkeit wird. Die Jugend Hongkongs begehrt auf gegen einen Digital-Leninismus, dem sich viele ihrer Altersgenossen in Peking und Shanghai, wäre es ihnen nur möglich, genauso entgegenstemmen würden.
Orwell hatte noch keine Ahnung von Big Data und künstlicher Intelligenz
Es geht eben nicht um Hongkong allein. Dort stehen nur die Fernsehkameras. In Xinjiang, der muslimisch geprägten Provinz im Nordwesten Chinas, sind seit 2017 Hunderte von Umerziehungslagern errichtet worden. Weit mehr als eine Million Uiguren und Kasachen werden dort festgehalten, Opfer eines Kampfes der Zentralregierung gegen vermeintlichen „Separatismus, religiösen Extremismus und Terrorismus“.
Bis in ihre Moscheen hinein werden die Angehörigen islamischer Minderheiten beobachtet, die Kameras der Staatssicherheit sind überall. Bei der Gesichtserkennung ist China längst Weltspitze. In Echtzeit werden alle Daten ausgewertet. Orwell hatte ja noch keine Ahnung von den Möglichkeiten, die Big Data und künstliche Intelligenz bieten.
Was also tun? Die Vereinigten Staaten haben acht chinesische Firmen auf eine schwarze Liste gesetzt, die bei der Unterdrückung in Xinjiang besonders gut im Geschäft sind. Unternehmen wie Hikvision, SenseTime und Megvii. Warum untersagt nicht auch die EU die Zusammenarbeit mit diesen Spezialisten fürs Ausspähen?
Immerhin, in der UN-Vollversammlung hat Deutschland mit 22 anderen Staaten Chinas Regierung aufgefordert, „willkürliche Inhaftierungen von Uiguren und Angehörigen anderer muslimischer Gemeinschaften“ zu beenden. Peking mobilisierte 54 Staaten unter Führung Weißrusslands gegen die Resolution. Und hämte danach, „ein paar wenige westliche Staaten“ hätten „eine schmähliche Niederlage erlitten“.
Na und? Die halbe Welt bebt beim Gedanken an mögliche Vergeltung aus China. In diese Abhängigkeit, die erpressbar macht, dürfen die Europäer sich nicht begeben. Ungarn und Griechenland sind den Verlockungen der „Neuen Seidenstraße“ bereits erlegen und beim Thema Menschenrechte schwerhörig geworden.
Emmanuel Macron dagegen hat Anfang dieses Jahres erklärt, die Zeiten „europäischer Naivität“ seien vorbei. In Ursula von der Leyen, der künftigen EU-Kommissionspräsidentin, hat er eine Mitstreiterin. Sie will die „Selbstbehauptung Europas“ zwischen den USA und China zu ihrem Thema machen. Schon die bisherige EU-Kommission hat China in einem Grundsatzpapier als „systemischen Rivalen“ definiert. Genau das ist die Volksrepublik. Und die Europäer werden sich ihrem Machtanspruch nur gemeinsam widersetzen können.
Staats- und Parteichef Xi Jinping hat seinem Volk die Verwirklichung des „chinesischen Traums“ versprochen, die Wiederauferstehung der chinesischen Nation. Und tatsächlich bleibt der wirtschaftliche Fortschritt atemberaubend. Aber geistig schottet sich das Land unter Xi immer mehr ab. Seit Jahrzehnten hat das Regime die Grenzen der politischen und intellektuellen Debatte nicht so eng gezogen.
Dies ist der wahre Grund, warum der Protest in Hongkong auch nach fünf Monaten nicht abebbt. Warum die Mehrheit der Bürger immer noch hinter den Aktivisten steht und sogar ihre Gewalt toleriert. Jenseits der Stadtgrenze sehen sie ihre Zukunft. Und finden sie zum Fürchten.
https://www.zeit.de/2019/48/china-hongkong-ueberwachung-unterdrueckung-digital-leninismus